Was ein Besuch am ältesten Tennisturnier der Welt in Wimbledon über das britische Gemeinwesen, das Klassensystem und die Königsfamilie verrät.

Die Mitglieder der Königsfamilie sitzen in Wimbledon in der ersten Reihe, wie hier Prinz William mit seinem Sohn, Prinz George. Die Mitglieder der Königsfamilie sitzen in Wimbledon in der ersten Reihe, wie hier Prinz William mit seinem Sohn, Prinz George.

Stephanie Lecocq / Reuters

Das Tennisturnier in Wimbledon gehört zu den prestigeträchtigsten Sportanlässen der Welt – und ist gleichzeitig eine durch und durch britische Angelegenheit. Wimbledon ist viel mehr als ein Turnier. Während zweier Wochen werden auf der prächtigen Anlage im Südwesten Londons Traditionsbewusstsein und Eleganz zelebriert.

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Es gibt wenig Werbung, die Spielerinnen und Spieler dürfen nur ganz in Weiss antreten, das Publikum erscheint in Anzügen und Sommerkleidern und stilvollen Hüten. Man verköstigt sich mit Erdbeeren und Rahm und trinkt Pimm’s – ein alkoholisches Getränk, das aus einer geheimen Mischung aus Gin, Kräutern, caramelisierter Orange und Gewürzen besteht.

Teil des Spektakels ist die obsessive Beobachtung des britischen Sommerwetters. Zieht Regen auf, was jederzeit der Fall sein kann, treten die gut organisierten Balljungen und Ballmädchen auf den Plan. Sie ziehen in atemberaubender Geschwindigkeit Blachen über die Tennisplätze, um den Rasen zu schützen. Erfasst eine Hitzewelle die Stadt, was immer öfter der Fall ist, fallen die Zuschauer reihenweise in Ohnmacht – wobei jeweils unklar bleibt, ob dies nur auf die Hitze oder auch auf allzu freizügigen Pimm’s- und Champagner-Konsum zurückzuführen ist.

Die Mittelklasse steht Schlange

Anders als beim US Open in New York oder beim French Open in Paris ist es für Normalsterbliche nicht leicht, Tickets für Wimbledon zu erwerben. Ein Teil der Plätze wird zwar über eine Lotterie vergeben, doch sind die Erfolgschancen nicht riesig. Daher bleibt als aussichtsreichste Option die vielleicht britischste aller Beschäftigungen: das Schlangestehen.

Schlangestehen gilt in Grossbritannien als zivilisiertester Mechanismus zur Verteilung knapper Güter, etwa einem Ticket für Wimbledon. Schlangestehen gilt in Grossbritannien als zivilisiertester Mechanismus zur Verteilung knapper Güter, etwa einem Ticket für Wimbledon.

Tolga Akmen / EPA

Wer einen der begehrten Tagespässe ergattern will, muss früh aufstehen. Bereits im Morgengrauen versammeln sich im Wimbledon Park die Wartenden, etliche haben die Nacht vor Ort in Zelten verbracht. Zuerst erhält man ein Ticket, das einem eine Position innerhalb der Schlange zuordnet. Damit ist es möglich, kurz auf die Toilette zu gehen oder Proviant zu besorgen, ohne seinen Platz in der Schlange aufgeben zu müssen. Die meisten haben ohnehin vorgesorgt und für die gut und gerne sechs- bis achtstündige Wartezeit Camping-Stühle, Tee und Sandwiches mitgebracht – und für alle Fälle einen Regenschirm.

Schlangestehen gilt in Grossbritannien als fairster und zivilisiertester Mechanismus zur Verteilung knapper Güter. Nicht Geld oder Einfluss zählen, sondern Durchhaltewille, Standhaftigkeit und stoische Geduld. Zudem besteht Chancengleichheit, weil es ja theoretisch allen freigestanden wäre, noch früher mit dem Anstehen zu beginnen.

Um Königin Elizabeth II. die letzte Ehre zu erweisen, standen die Britinnen und Briten im Herbst 2022 teilweise 24 Stunden lang Schlange, bevor sie erschöpft zum Sarg der Queen im Westminster Palast vorgelassen wurden. Geduld braucht man auch als Patient des Nationalen Gesundheitsdiensts (NHS). Anstatt die Kapazitäten zu erhöhen oder die Nachfrage mit mehr Eigenverantwortung für die Patienten zu drosseln, lässt man in Grossbritannien 7,4 Millionen Personen, 11 Prozent der Gesamtbevölkerung, auf einer Warteliste verharren. Wer einen Termin bei gewissen Fachärzten oder Physiotherapeuten benötigt, wartet mitunter ein halbes Jahr oder länger, bis er mit der Behandlung beginnen kann.

Die «queue» steht für Ordnungssinn. «Jumping the queue», wie das Vordrängeln genannt wird, ist gesellschaftlich geächtet. Dies ist mit ein Grund dafür, dass sich viele Britinnen und Briten masslos über die im Vergleich zur gesamten Zuwanderung wenigen Migranten ärgern, die irregulär über den Ärmelkanal von Frankreich nach Grossbritannien gelangen. Das Botschaftsasyl gibt es im britischen Recht seit Jahren nicht mehr. Doch käme die gleiche Anzahl Flüchtlinge nicht unkontrolliert mit Booten ins Land, sondern nachdem sie in einer britischen Botschaft im Ausland geordnet in einer Schlange gewartet hätten, wäre die Akzeptanz womöglich deutlich höher.

Wimbledon ist kein Ort für arme Leute. Nur Reiche erhalten Zugang zu exklusiven Lounges, Bars und Terrassen. Wimbledon ist kein Ort für arme Leute. Nur Reiche erhalten Zugang zu exklusiven Lounges, Bars und Terrassen.

Peter van den Berg / Imago

Einteilen statt durchmischen

Fussball gilt als Sport der Arbeiterklasse, Wimbledon hingegen ist kein Ort für arme Leute. Während sich vornehmlich Angehörige der Mittelklasse in die Schlange stellen, stehen der Oberklasse andere Zugangsmöglichkeiten offen. Ein beträchtlicher Teil der Plätze im Centre-Court ist für sogenannte Debenture Holders reserviert. Diese kaufen für die Kleinigkeit von umgerechnet 125 000 Franken eine Obligation des All England Lawn Tennis Clubs und sichern sich für die Dauer des Turniers einen Sitz im Centre-Court.

Da die wenigsten Obligationäre jeden Tag persönlich nach Wimbledon fahren, verkaufen sie Tageskarten für ihren Sitz für erkleckliche Summen weiter. Wer im Besitz eines Debenture Tickets ist, erhält Zugang zu exklusiven Lounges, Bars und Terrassen, zu denen das Fussvolk nicht zugelassen ist. Für viele ist es wichtiger, im elitären Restaurant «The Champions’ Room» gesichtet zu werden, als einem guten Tennis-Match beizuwohnen.

Eine allgemein akzeptierte Definition von Ober-, Mittel- und Arbeiterklasse gibt es in Grossbritannien nicht. Und doch können sich Britinnen und Briten gegenseitig sehr rasch und akkurat einteilen. Den wichtigsten Anhaltspunkt geben der Akzent und die Sprechweise. Doch lassen sich adlige oder besonders wohlhabende Angehörige der Oberklasse etwa auch an Statussymbolen oder am Besuch von Eliteschulen wie Eton oder Harrow und Universitäten wie Oxford oder Cambridge erkennen. Die Mitgliedschaft in einem Private Members’ Club, in denen man sich unter Gleichgesinnten trifft, gibt ebenfalls Aufschluss über die gesellschaftliche Gruppenzugehörigkeit.

Gemäss der im Jahr 2021 durchgeführten Volkszählung gehören 23 Prozent der Bevölkerung der Upper Class oder der Upper Middle Class an. 33 Prozent werden der Middle Class zugerechnet, während 44 Prozent zur Working Class zählen. Bei der Volkszählung werden die Britinnen und Briten auch detailliert nach ihrer sexuellen Orientierung, Geschlechtsidentität und ethnischen Zugehörigkeit befragt und kategorisiert. Als weisse Person muss man zwischen «British white», «Irish white», «Gipsy or Irish Traveler», «Roma» oder «Other White» auswählen. Als Schwarzer kann man sich als «Black African», «Black Caribbean» oder «Other Black» bezeichnen.

Manche Sozialwissenschafter argumentieren, die Tendenz, die Bevölkerung in Gruppen einzuteilen, anstatt zu durchmischen, habe bereits die britische Kolonialherrschaft geprägt und äussere sich bis heute in der Tendenz zu ethnisch homogenen Quartieren. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Einwanderung aus dem British Empire zunahm, liessen sich Afrikaner und Kariben im ärmeren Süden Londons und Pakistaner und Bangalen im industriellen Osten nieder. Weisse wohnten mit Vorliebe im nobleren Westen.

Die Royals in der Loge

In Wimbledon ist zuoberst auf der Treppe der sozialen Hierarchie angelangt, wer die Tennisspiele auf dem Centre-Court von der Royal Box aus mitverfolgt. Die exklusive Loge der Königsfamilie darf man nur auf Einladung hin betreten. Eine solche erhalten etwa Schauspielerinnen wie Nicole Kidman, König Frederik von Dänemark, der mehrfache Wimbledon-Champion Roger Federer oder die Mode-Ikone und Verlegerin Anna Wintour.

Die besten Plätze in der ersten Reihe sind für die Mitglieder der Königsfamilie reserviert. Königin Camilla fährt gerne nach Wimbledon. Ebenso Prinz William und seine Gemahlin Kate, die als Schirmherrin des Turniers fungiert und die Pokale übergibt.

Auch Prinz Williams Frau Kate besucht im Juli mit der Tochter Charlotte den Männer-Final in Wimbledon. Auch Prinz Williams Frau Kate besucht im Juli mit der Tochter Charlotte den Männer-Final in Wimbledon.

Stephanie Lecocq / Reuters

Die Erbmonarchie steht an der Spitze des Klassensystems und hält es gleichzeitig zusammen. König Charles ist Oberhaupt der anglikanischen Kirche, doch bezeichnet er sich in Anerkennung der religiösen Vielfalt im Land als «Verteidiger aller Glaubensrichtungen». Über Schirmherrschaften, militärische Ehrentitel und wohltätige Stiftungen wirkt die Königsfamilie tief in die Gesellschaft hinein.

Jeden Sommer werden Britinnen und Briten, die sich in ihrem beruflichen oder privaten Leben um den sozialen Zusammenhalt verdient gemacht haben, an eine Gartenparty in den Buckingham Palace eingeladen. Direkt mit den Mitgliedern der Königsfamilie Tee trinken dürfen dann aber doch nur ausgewählte Ehrengäste und Würdenträger – in einem separierten Zelt.

Auch nach dem Tod der Queen ist die Monarchie als Staatsform unbestritten. Die Monarchie stellt eine lineare Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart dar. Eine ausländische Besetzung hat Grossbritannien seit dem normannischen Eroberungszug von 1066 nicht erdulden müssen. Eine kurze republikanische Episode im 17. Jahrhundert endete im Fiasko und in der raschen Restauration der Monarchie.

Grossbritannien hat zwar sein Empire verloren, doch im Inneren hat das Land nie einen politischen Bruch wie die Französische Revolution oder die Naziherrschaft erlebt. Eine schriftliche Verfassung gibt es nicht. Rechtskraft entfalten im Land eine historisch gewachsene Mischung von im Parlament verabschiedeten Gesetzen, Richtersprüchen (Common Law) und ungeschriebenen Konventionen.

Gemäss der Konvention kam nach dem Tod von Königin Elizabeth II. ein altertümlicher Rat zusammen, um Charles III. zum neuen König auszurufen. Das auf das Mittelalter zurückgehende Gremium setzt sich aus der versammelten britischen Machtelite zusammen, bestehend aus rund 700 aktiven und pensionierten Politikern, Klerikern und Richtern.

Bis heute werden imperiale Masseinheiten genutzt, auch wenn das napoleonische Dezimalsystem praktischer wäre. Bis heute gelten Gesetze aus viktorianischen Zeiten. Im House of Lords wirken ungewählte Adlige und Bischöfe an der Gesetzgebung mit, was in jedem anderen Land Fragen zur demokratischen Legitimation und zur Trennung von Kirche und Staat aufwerfen würde.

Armut in der Peripherie

Dass es in Grossbritannien nie eine Revolution gab, mag mit ein Grund sein für das Brexit-Votum von 2016. Denn abseits von Wimbledon und den privaten Members’ Clubs liegt im zentralistischen Königreich vieles im Argen. Die Kinderarmut ist im europäischen Vergleich sehr hoch, manche Rentner können die Heizkosten nicht bezahlen. In Touristenorten an der englischen West- und Ostküste, die vor dem Aufkommen der Billigfluggesellschaften noch boomten, konzentrieren sich heute Armut sowie Alkohol- und Drogenprobleme.

In Grossbritannien gab es nie eine Revolution. Vielleicht mit ein Grund, warum der Brexit zu Beginn so beliebt war. In Grossbritannien gab es nie eine Revolution. Vielleicht mit ein Grund, warum der Brexit zu Beginn so beliebt war.

John Keeble / Getty

Vielen ehemaligen Industriestädten in Mittelengland fehlt seit der von Margaret Thatcher vorangetriebenen Deindustrialisierung eine glaubwürdige wirtschaftliche Perspektive. Die Working Class, die ihre soziale Zugehörigkeit in der Fabrik, im Pub oder im Fussballstadion einst mit Stolz zelebrierte, hat den Glauben an die Zukunft verloren.

Auch darum begehrte die Bevölkerung in den vernachlässigten Gebieten auf und stimmte wuchtig für den Brexit. Doch die erhoffte Verbesserung der Lebensumstände lässt noch immer auf sich warten. Nun entlädt sich die Wut an den etablierten Parteien und an den Bootsmigranten, die in Hotels untergebracht werden, während den Einheimischen das Geld für Ferien fehlt. Wieder erscheint Nigel Farage als Heilsbringer. Nachdem der Brexit-Vorkämpfer die verkorkste Umsetzung des EU-Austritts Boris Johnson und der Konservativen Partei anlasten konnte, verspricht er mit seiner Partei Reform UK erneut eine «politische Revolution».

Reformen sind im verästelten und historisch gewachsenen britischen Gemeinwesen schwierig, aber nicht unmöglich. Selbst der All England Lawn Tennis Club setzt in Wimbledon mitunter Neuerungen durch. So wurden dieses Jahr die eleganten Linienrichter durch ein elektronisches System ersetzt, das ohne menschliche Fehleranfälligkeit feststellt, ob ein Ball im Aus war oder nicht. Traditionalisten beklagen, das Turnier habe seinen Zauber verloren und sei in eine Diktatur der Technologie abgedriftet.

Immerhin bleibt Wimbledon der letzte grosse Tennis-Wettkampf, bei dem auf fein säuberlich geschnittenem und gepflegtem Rasen gespielt wird. Der Sport entstand im 18. Jahrhundert als Lawn Tennis, selbstverständlich hält das älteste Tennisturnier der Welt an der ursprünglichen Unterlage fest. Über Sandplätze wie jene in Paris würden die Briten als Volk von Gärtnern die Nase rümpfen. Am einfachsten und billigsten zu pflegen wären Hartplätze wie jene in New York oder Melbourne. Doch solch neumodische Unterlagen überlässt man in London lieber den Tennisturnieren in der Neuen Welt.

Eine Zuschauerin am Turnier im All England Lawn Tennis Club in Wimbledon 2025. Eine Zuschauerin am Turnier im All England Lawn Tennis Club in Wimbledon 2025.

John Walton / PA Images / Getty

Von London nach Zürich

nbe. · Fünf Jahre lang hat Niklaus Nuspliger (nn.) die britische Lebensart, Politik und Wirtschaft des Landes beobachtet und beschrieben. Mit diesem Artikel endet nicht nur seine Korrespondententätigkeit für Grossbritannien und Irland, sondern auch eine lange Zeit im Ausland. Seit 2010 hat Nuspliger für die NZZ aus den USA, aus Brüssel und zuletzt aus London berichtet. nn. wird nach einer Auszeit auf die Redaktion in Zürich zurückkehren.