Sie heißen Seidensänger, Zwergohreule, Bienenfresser und Orpheusspötter – und wer sie noch nicht kennt, hat gute Chancen, sie demnächst kennenzulernen. Denn alle vier gehören zu einer Gruppe südeuropäischer Vogelarten, die sich allmählich auch in Deutschland heimisch fühlen. Bienenfresser und Orpheusspötter haben ihren Siegeszug gen Norden schon vor einigen Jahren angetreten, Seidensänger und Zwergohreule sind Neulinge: Sie werden im aktuellen Expertenbericht zur Lage der Vögel in Deutschland zum ersten Mal als etablierte Brutvögel aufgeführt. Und weitere Südeuropäer stehen schon vor der Tür. Kuhreiher, Zistensänger und Zwergscharbe haben in den vergangenen Jahren erstmals vereinzelt in Deutschland gebrütet. Sie alle sind Zuwanderer aus den warmen Regionen Süd- und Südosteuropas.
„Wir sehen sehr deutlich, dass der Klimawandel sich immer stärker in der Vogelwelt Deutschlands niederschlägt“, sagt Tobias Reiners. „Die Veränderungen laufen schneller ab, als wir das erwartet haben“, so der Vorsitzende des Dachverbands Deutscher Avifaunisten (DDA), der im Auftrag des Bundesumweltministeriums alle sechs Jahre den Statusbericht „Vögel in Deutschland“ vorlegt.
Der Klimawandel bringt aber nicht nur neue Arten nach Deutschland. Er verhilft auch den Vögeln aus dem Süden zu größeren Populationen, die als Klima-Pioniere schon vor einigen Jahren oder Jahrzehnten in Deutschland Fuß fassen konnten, wie der noch unveröffentlichte Bericht der Vogelstatistiker zeigt, der der SZ vorliegt. Grundlage sind langjährige Monitoringprogramme von 10 000 ehrenamtlichen Ornithologen sowie die regelmäßigen Meldungen von mehr als 50 000 Beobachtern über eine App. Weil Vögel besonders gute Indikatoren für den Zustand der Ökosysteme sind, ist der Bericht eine der wichtigsten Grundlagen zur Bewertung des Zustands der Natur in Deutschland.
Klimawandel macht Zugvögel faul
Beispiel Bienenfresser. Seit es den farbenfrohen Vögeln dank des immer milderen Klimas in den 1990er-Jahren gelang, regelmäßig in Deutschland zu brüten, nimmt ihre Zahl mit jedem Jahr kräftig zu. Allein in den vergangenen zehn Jahren konnte sich der Bestand versechsfachen. Inzwischen graben 6000 Bienenfresser-Paare in allen Bundesländern mit Ausnahme der Stadtstaaten regelmäßig ihre Bruthöhlen in Sandgruben, an Steilhängen oder Kiesgruben. Etwas verhaltener verläuft die Zuwanderung anderer Vögel aus dem Mittelmeerraum: Die Zahl der Wiedehopfe, die bevorzugt wärmeabhängige Großinsekten verspeisen, hat sich in den vergangenen sechs Jahren auf mehr als 2000 Brutpaare verdoppelt, und auch die hauptsächlich ab Italien südwärts verbreitete Zaunammer brütet mittlerweile doppelt so oft in Weinbergen und an sonnenexponierten Hängen wie noch vor wenigen Jahren.
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Auch im Verhalten der Vögel hinterlässt der Klimawandel immer stärker seine Handschrift. Schneearme Winter ermöglichen es arktischen Weißwangengänsen, ihren Zugweg zu verkürzen und die „kalte“ Jahreszeit an der Nordseeküste und nicht weiter südlich in Europa zu verbringen. Die Folge: Immer mehr Vögel bleiben im Frühjahr hängen und brüten hierzulande. Andere Arten wie Kranich oder Weißstorch verzichten in zunehmender Zahl im Herbst ganz auf die lange Reise in den Süden und weichen bei Wintereinbrüchen nur noch über kurze Distanzen innerhalb Europas aus. Die Strategie, auf den körperlich anstrengenden und gefährlichen Langstreckenzug zu verzichten, schlägt sich auch bei ihnen in steigenden Beständen nieder. So brüten heute wieder rund 10 000 Weißstorch-Paare in Deutschland – ein Plus um 50 Prozent innerhalb weniger Jahre.
Selbst im Wald wirbelt der Klimawandel das gefiederte Artenspektrum durcheinander. Weil häufigere Stürme und Dürren in weiten Teilen der deutschen Mittelgebirge die artenarmen Fichtenplantagen absterben lassen, können sich in den aufgelichteten Wäldern und auf den Kahlflächen Vogelarten neu etablieren, die mit der Umwandlung der Wälder in dunkle Forst-Monokulturen vor langer Zeit von dort verschwunden sind. Neuntöter und Sperlingskauz verzeichnen so hohe Bestände wie lange nicht mehr. Auch Spechte profitieren, weil das Fichtensterben große Mengen insektenreichen Totholzes hinterlässt. Verlierer dieser Entwicklung sind typische Bewohner der Nadelwälder wie Haubenmeisen und Wintergoldhähnchen. Ihre Populationen nehmen ab.
Insgesamt ergibt sich aktuell ein ausgeglichenes Bild von Gewinnern und Verlierern in der Vogelwelt. Die Zahl der Arten mit steigenden Beständen ist sogar etwas höher als die derjenigen, die abnehmen. Die Bilanz sehe aber ausgeglichener aus, als sie es in der Realität sei, „denn an den Umweltproblemen hat sich wenig geändert“, warnt Reiners vor Fehlinterpretationen.
Auch der Bericht selbst zeigt, dass sich der Überlebenskampf für viele Vogelarten in den vergangenen Jahren sogar noch verschärft hat. „Vor allem bei Vögeln, die eine naturverträglich genutzte Agrarlandschaft brauchen, ist die Lage dramatisch“, sagt Konstantin Kreiser, Naturschutzexperte beim Nabu. „Viele Arten kommen nur noch in gut geschützten Gebieten oder in Gegenden vor, in denen die intensive Landwirtschaft nicht so stark zuschlägt.“ Besonders schlecht gehe es Vögeln, die im Agrarland leben und gleichzeitig auf Feuchtgebiete angewiesen sind, etwa auf nasse Kuhweiden oder Grünland-Wiesen. „Ihre Rolle als Charaktervögel unserer Landschaften haben Rebhuhn, Kiebitz, Uferschnepfe und Bekassine verloren“, sagt Kreiser. Auch der Bericht weist für diese Arten Bestandseinbrüche von mehr als 70 Prozent in den vergangenen beiden Jahrzehnten aus.
Hoffnung auf Besserung sieht Naturschützer Kreiser für viele Vogelarten durch das vor einem Jahr in Kraft getretene europaweite Renaturierungsgesetz. Wiedervernässte Moore oder frei fließende Flüsse federn nicht nur Hochwasserspitzen ab und speichern große Mengen Kohlenstoff, argumentiert der Nabu-Experte. „Die Renaturierung solcher Lebensräume könnte auch Kiebitz, Uferschnepfe und Trauerseeschwalbe zu Gewinnern einer weitsichtigen Klimapolitik machen.“