Serbiens Präsident Aleksandar Vučić ist ein erfahrener Schaukelpolitiker. Der Staatschef des 6,6 Millionen Einwohner zählenden Balkanlandes sucht trotz geopolitischer Verschiebungen sein Auskommen mit den Mächtigen der Welt, mit Russland, China, der EU und den USA: Aus Moskau kommen billiges Öl und Gas, Peking ist ein Großinvestor, die EU mit 60 Prozent des Handels ein unersetzbarer Partner, und Washington spielte schon bei der Gründung der von Belgrad nicht anerkannten Republik Kosovo vor fast drei Jahrzehnten eine führende Rolle.

Vučić will es sich mit niemandem verderben. Das führt zu mitunter grotesk anmutenden Verrenkungen. Im Mai schüttelt er dem vom Westen geächteten russischen Präsidenten Wladimir Putin in Moskau die Hand, um Tage später in Belgrad zu behaupten, die Integration des Landes in die EU sei der „unmissverständliche politische Wille Serbiens“. Den Sanktionen gegen Russland hat er sich als Führer eines orthodox-christlichen Landes nicht angeschlossen. Aber er lässt Munition in die Ukraine liefern und kritisiert Russlands Einmarsch dort als völkerrechtswidrig, was ihm die Russen öffentlich verübeln.

Mit China, das Serbien als Produktionsstätte an der EU schätzt, schloss er ein Freihandelsabkommen, wohl wissend, dass das nicht zum EU-Beitritt passt, für den sein Land seit 2013 ein Kandidat ist. Aber seit dem Einsturz des von Chinesen gebauten Bahnhofsdachs in Novi Sad mit vielen Toten im November 2024 hören die Proteste gegen den seit 2017 autoritär regierenden Staatspräsidenten und seine SNS-Partei nicht auf.

Der Beitrittsprozess hakt an vielen Stellen

Das Verhältnis zu Washington hatte sich nach den Lieferungen von Artilleriegeschossen an die Ukraine merklich verbessert. Nachdem Jared Kushner, der Schwiegersohn von US-Präsident Donald Trump, mit Immobilienprojekten in Belgrad von sich reden machte, hatten viele eine Annäherung erwartet. Schließlich hatte Washington Sanktionen gegen den serbischen Ölkonzern NIS, der mehrheitlich Russen gehört, Mal um Mal ausgesetzt. Doch Trump verhängte 35 Prozent Zoll gegen Serbien, das damit zur Schweiz des Balkans wurde: Waren aus keinem anderen Land der Region werden in Amerika mit so hohen Zöllen belegt.

Schaukelpolitik garantiert eben keinen Erfolg. Und wie es beim Schaukeln so ist: Der Schwung kann noch so gewaltig sein, man kommt doch nicht vom Fleck. Etwa mit dem EU-Beitritt. In zwölf Jahren wurden nur zwei der 35 Kapitel für den Beitrittsprozess abgeschlossen. Es hakt an vielen Stellen.

Eine ist die Außenpolitik. „Die allgemeine Angleichung Serbiens mit EU-Beschlüssen in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik liegt bei 51 Prozent, was im regionalen Vergleich niedrig ist“, sagt Jakov Devčić, der das Belgrader Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung leitet. Er weiß aber von Fortschritten zu berichten, wie der Harmonisierung der Visumpolitik. Während für Serben seit 2009 bei der Einreise in die EU Visumfreiheit gilt, hat sich Belgrad als Einfallstor für unerwünschte Immigration in die EU erwiesen. Nun führt Serbien für mehr Staaten wieder eine Visumpflicht ein. Das Land wolle „dadurch zeigen, dass man sich aktiv am Kampf gegen illegale Migration und andere Formen grenzüberschreitender Kriminalität beteiligt“, sagt Devčić.

Von Ratingagenturen herabgestuft

Internationale Ratingagenturen vergeben für Serbien dennoch nur ein Rating knapp unter „Investment Grade“, was eben keine gute oder sehr gute Kreditwürdigkeit bedeutet. Anders als die US-Konkurrenz senkte die europäische Agentur Scope im Sommer den Ausblick, von „positiv“ auf „stabil“. Zu viele Dinge fielen den Prüfern negativ auf. Größere politische Unsicherheit, Verlangsamung der Reformen, anhaltende institutionelle Schwächen sowie regionale und geopolitische Risiken wirkten sich „auf die Qualität und Berechenbarkeit der Politikgestaltung aus“, schreiben sie.

Die Ratingkollegen von Fitch zitieren den Governance-Index der Weltbank, der im Falle Serbiens auf „moderate institutionelle Kapazitäten und Rechtsstaatlichkeit sowie eine hohe Wahrnehmung von Korruption hinweist“. Serbien hängt stark an der Auslandsfinanzierung, weshalb das Urteil von Ratingagenturen bedeutsam ist.

Im Bericht zum Stand der Beitrittsgespräche hatte die EU-Kommission im Herbst 2024 viel zu kritisieren, auch wenn sie den Vorwurf der Wahlfälschung nicht erhob. Doch Brüssel monierte die schleppende Rechtsstaatsreform, das Ausbleiben der Normalisierung der Beziehung zum Kosovo, Desinformation in den (oft regierungsnahen) Medien. Die guten Beziehungen Belgrads zu Russland und China würfen „Fragen über die strategische Ausrichtung Serbiens auf“.

Das hält die EU nicht davon ab, den Beitrittsprozess zu unterstützen. Im Juni überwies Brüssel 51 Millionen Euro Haushaltshilfe, als Teil von 1,6 Milliarden Euro, die Serbien im vorigen Herbst in Aussicht gestellt wurden, als Teil des „Wachstumsplans für den Westbalkan“. Deren Auszahlung ist an das Erreichen bestimmter Reformfortschritte gebunden.

Serben immer europaskeptischer

Der EU-Beitritt Serbiens bedeute „eine echte Chance“, sagt Andreas von Beckerath, der Anfang August angetretene Botschafter der EU. Sein Vorgänger hatte kürzlich mit einer „Europatage-Karawane“ für das politische Projekt geworben, Spots in TV, Radio und Social Media inklusive. Das scheint auch nötig zu sein. Denn die Begeisterung der Serben für die EU klingt ab. In einer aktuellen Umfrage sprachen sich noch 31 Prozent der Befragten für einen EU-Beitritt aus, 44 Prozent waren dagegen. Vor drei Jahren hatten noch 38 Prozent pro EU plädiert.

„Die Ergebnisse zeigen eine zunehmende Skepsis gegenüber der EU, insbesondere was das Vertrauen in Institutionen und konkrete Vorteile der EU-Mitgliedschaft betrifft“, sagt Devčić von der Konrad-Adenauer-Stiftung: Während 2022 noch ein pragmatischer Optimismus vorherrschte, spiegelten die Daten von 2025 eine politisch und gesellschaftlich fragmentierte Haltung, die geprägt ist von geopolitischen Spannungen, innenpolitischer Polarisierung und wachsender Identitätsunsicherheit.

Gute Wirtschaftsdaten

So kritisch die politische Bilanz des Beitrittskandidaten ausfällt, die Wirtschaftsdaten sind solide. Die überwiegend auf Auslandsbonds ruhende Staatsverschuldung ist mit 47,5 Prozent des Bruttoinlandproduktes (BIP) überschaubar, das steigende Haushaltsdefizit dürfte auch in diesem Jahr unter drei Prozent des BIP liegen. Die Notenbank hält den Leitzins seit einem Jahr auf 5,75 Prozent stabil. So will sie die Inflation bekämpfen, die zuletzt 4,9 Prozent betrug. Seit Mai gehört Serbien zum europäischen Zahlungsnetzwerk SEPA.

Das nach Kaufkraftparitäten berechnete BIP je Kopf beträgt laut Weltbank knapp 32.000 Euro. Das entspricht etwa der Hälfte des EU-Wertes. Diese Daten sind wichtig, denn ein Beitrittskandidat muss nach den „Kopenhagener Kriterien“ in der Lage sein, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften in der Union standzuhalten.

Serbien schneidet hier besser ab als seine Nachbarn auf dem westlichen Balkan, wie eine Analyse der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organisation for Economic Co-operation and Development, OECD) zeigt: Im Jahr 2023 lag das um Kaufkraftparitäten bereinigte BIP pro Kopf der Region bei 39 Prozent des EU-Durchschnitts. Zwanzig Jahre vorher hatte es nur ein Viertel des EU-Wertes betragen. Der Vergleich zeigt auch, wie langsam sich die Angleichung der Beitrittskandidaten an das EU-Niveau vollzieht. Er begründet nicht, warum im Falle Montenegros und Albaniens ein Beitritt schon bis 2030 als realistisch gilt, für Serbien aber niemand laut einen Termin nennt. An der Wirtschaft liegt es nicht.

Dem Präsidenten drohen vorgezogene Wahlen

Der Internationale Währungsfonds (IWF) beschreibt die makroökonomische Lage Serbiens als „robust“ und erwartet ein Wachstum von drei Prozent in diesem Jahr. Branimir Jovanović vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) verweist auf schwache zwei Prozent Wachstum zu Jahresbeginn, was vor allem Folge der Halbierung der ausländischen Direktinvestitionen sei. Er nennt dafür zwei Gründe: geopolitische Unsicherheiten und die innenpolitische Krise. Zudem seien öffentliche Investitionen gesunken, „was wahrscheinlich eine Folge der Schwierigkeiten der Regierung ist, Projekte angesichts der wachsenden Proteste umzusetzen“.

Das könnte eines der Prestigeprojekte des Präsidenten treffen, die vielbeworbene Weltausstellung „Expo 2027“ in Belgrad. Damit der versprochene „Sprung in die Zukunft“ gelingt, sind öffentliche Investitionen in Höhe von 17,8 Milliarden Euro geplant – was nach Berechnungen von Fitch einem Fünftel des für dieses Jahr erwarteten BIP entspräche. 2027 ist nicht nur Expo-Jahr, dann stehen auch die nächsten Wahlen an. Doch wegen der öffentlichen Proteste, bei denen im August Dutzende Demonstranten verletzt wurden, wird immer öfter über einen vorgezogenen Urnengang am Jahresende spekuliert. WIIW-Ökonom Jovanović hält das für plausibel: Die angekündigten Lohn- und Rentenerhöhungen sendeten „ein starkes Signal, dass dies tatsächlich wahrscheinlich ist“.