Vor einigen Jahren wollte ich einen Kollegen, der mir bei einer komplizierten Recherche geholfen hatte, zum Essen einladen. Ich schickte ihm eine Liste teils feiner, teils handfester Restaurants, er solle sich eines aussuchen, darunter die »Pfälzer Residenz Weinstube«, untergebracht im barocken Teil der Münchner Residenz, gleich neben dem Hofgarten. Ich weiß noch, dass er amüsiert klang, als er mich anrief: »Soso, in die Witwengruft willst du mich schleppen«, und ich weiß auch noch, dass ich so tat, als wüsste ich, was er meinte. Wir gingen dann woandershin, aber meine Neugierde war geweckt, die Witwengruft musste ich kennenlernen.

Ein paar Tage später stattete ich der »Weinstube« einen Besuch ab, diesmal allein, und war sofort begeistert: der historische Saal, die hohen Decken, die Kronleuchter, die Säulen, die Ölgemälde. Ich setzte mich, schaute eine Weile durch die Gegend, und es dauerte ein paar Sekunden, aber dann traf mich die Erkenntnis wie ein Blitz: Ich war, obwohl ich schon damals stramm auf die 50 zuging, mit Abstand der Jüngste im Raum. Um mich herum saßen sicher 150 Menschen, und alle, wirklich alle waren zwischen 70 und 100, ein Tableau vivant in Grau und Weiß, und alle, wirklich alle wirkten vergnügt und beschwingt: ältere Damen in Strickjäckchen, rüstige Senioren in geometrisch gemusterten Pullovern, Reisegruppen in Funktionskleidung, hier und da sah man Gehstöcke, auch Hörgeräte und Herzschrittmacher dürften sich im Raum befunden haben. Ich bestellte einen Riesling, dann noch einen, und wollte gar nicht nach Hause, so hingerissen war ich von der unverstellt ausgelassenen Stimmung, in die ich mich hineinlegte wie in ein Schaumbad.

Seitdem bin ich kein Stammgast der »Pfälzer Weinstube« geworden, aber gelegentlich schaue ich vorbei und probiere jedes Mal einen anderen Wein, immerhin lagern in ihren Kellern 60  000 Flaschen, vom günstigen Schoppenwein bis zum Weißen Burgunder Eiswein (»seltene Kostbarkeit«) ist alles dabei. Dazu gibt’s einen Kurpfälzer Wurstsalat oder gedörrte Griebenwurst, einfache, herzhafte Speisen, passende Weinbegleiter, die man bestellen kann, aber nicht muss. Doch es geht mir gar nicht ums Essen und Trinken. Es ist die Atmosphäre, die mich anzieht und von der eine erlösende Kraft ausgeht. Ich schaue diesen Menschen gern zu, sie nehmen mir die Angst vor dem Altwerden, zeigen mir das heitere, das gelassene Gesicht der letzten Lebensjahre. Natürlich weiß ich, dass andere Senioren zur selben Zeit mit Infusionsständer im Krankenhausflur rumstehen, wieder andere sind verbittert, einsam oder tot, und doch ist da die Hoffnung, dass das Leben auch heiter und genussvoll zur Neige gehen kann, wie ein goldener Herbsttag.

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In der »Pfälzer Weinstube« herrscht respektvolle Ausgelassenheit, es wird gelacht und getratscht, neulich war ich kurz vor Mitternacht da, und es waren immer noch fast alle Tische besetzt, die Alten wissen, wie man feiert. Ich glaube, das Geheimnis ist die Unaufgeregtheit: Keiner spielt sich auf, keiner repräsentiert, keiner vergleicht, keiner glotzt aufs Handy. Das Ergebnis ist eine selbstvergessene Lebendigkeit, die sich in einer angesagten Bar niemals einstellen könnte, weil ihre Besucher zu sehr auf ihre Wirkung bedacht sind, weil sich »angesagt« und »gelassen« ausschließen. Diese älteren Herrschaften müssen niemandem mehr etwas beweisen, nicht einmal sich selbst. Sie sitzen einfach nur zusammen und haben eine gute Zeit. Und weil das einfacher klingt, als es oft ist, können wir viel von ihnen lernen.