Eine kleine Flamme bewegt sich im Luftzug, als wir durch die Tür kommen. Sie wurde entzündet in Gedenken an „Michi“. Er ist einen Tag zuvor verstorben.
Rechts befindet sich ein gläserner Bereich mit einer Theke. Hier, an einem von zwei Standorten, bekommen jeden Morgen 100 Menschen ihre Ersatzdrogen in kleinen Bechern verabreicht. Zwei Automaten füllen genau die Menge an Methadon oder Polamidon ab, die für die jeweilige Person bestimmt ist. Nach der Einnahme haben die Konsumenten 24 Stunden Ruhe, also keine Entzugserscheinungen. Einige können sogar arbeiten gehen. „Ein Großteil aber ist nicht nur opiatabhängig, sondern konsumiert weitere Substanzen“, erklärt Jasmin Treichel, pädagogische Leitung der Suchthilfe direkt Essen gGmbH.
Angebot auf vier Etagen für „Drogengebrauchende“
Wir befinden uns im Drogenhilfezentrum an der Hoffnungstraße in Essen. Auf vier Etagen gibt es ganz unterschiedliche Angebote für „Drogengebrauchende“, so werden die Menschen hier genannt, die abhängig sind von „harten Drogen“. Links von dem Gedenktisch geht eine Glastür in den neuesten Bereich ab: In der Ambulanz wird reines Heroin (Diamorphin) unter ärztlicher Aufsicht ausgegeben. Ein paar Tische aus Edelstahl stehen dort, Trennwände zum Nachbarn, Glasplatten an den Wänden. Es muss alles desinfizierbar sein. Kleine Schlitze auf den Tischen sind zum Einwurf für gebrauchte Spritzen angelegt. Der Ausgabebereich ist bis zur Decke vergittert, dahinter stehen eine Ärztin und medizinische Fachangestellte, die alles zusammenstellen. Überreicht wird das Material über eine Schublade, die sich in beide Richtungen schieben lässt.
Dreimal täglich gibt es hier pharmazeutisches Heroin
Bis zu 50 Konsumenten erhalten bis zu dreimal täglich pharmazeutisches Heroin. Die Voraussetzungen für diese Form der Behandlung sind hoch. Warum die Suchthilfe das Einnehmen von Drogen noch unterstützt, diese Frage hören die Mitarbeiter häufig. „Was wir unterstützen, ist die medizinisch kontrollierte, gesetzlich geregelte Substitutionsbehandlung im Rahmen der Suchthilfe. Diese Maßnahmen fördern nicht den Drogenkonsum, sondern dienen dem Schutz von Leben und Gesundheit, der Stabilisierung von Menschen mit chronischer Abhängigkeitserkrankung und der Vermeidung schwerwiegender Folgen wie Infektionskrankheiten oder Überdosierungen“, sagt Ruben Planert, Pressereferent der Suchthilfe direkt Essen gGmbH.
Beratungsstelle für Konsumenten illegaler Drogen
Eine Etage darüber ist die Drogenberatungsstelle untergebracht. Hierhin können sich alle wenden, die mit illegalen Rauschmitteln oder Glücksspiel zu tun haben oder glauben, dass ein Angehöriger, Bekannter oder Kollege süchtig ist. „Die Beratung kann auch digital und anonym über die Plattform digi sucht erfolgen“, betont Jasmin Treichel.
Für junge Menschen sind oft Medikamente der Einstieg
Die Mitarbeiter der Suchthilfe direkt Essen stellen fest, dass junge Menschen verstärkt über Medikamentenmissbrauch in Abhängigkeit geraten. „Das liegt einerseits an einer Verherrlichung dieser Substanzen in der Musik“, sagt Ruben Planert. Andererseits seien gefälschte Medikamente im Netz einfach verfügbar. Vor allem Benzodiazepine, unter Jugendlichen und in Sozialen Medien als „Benzos“ bezeichnet, würden häufig konsumiert. Sie wirken entspannend und sedierend, sind aber für ihre starke körperliche und psychische Abhängigkeit bekannt.
Jugendliche kommen häufiger in Kontakt zu Heroin
Außerdem stellen die Experten in Essen fest, dass wieder mehr Jugendliche in Kontakt zu Heroin kommen. „Das war jahrelang kein Thema, wir beobachten aber, dass die Hemmschwelle von jungen Menschen stetig sinkt“, sagt die pädagogische Leiterin. Für junge Menschen hält die Drogenhilfe direkt Essen übrigens eigene Räumlichkeiten in Universitätsnähe bereit.
61 Prozent der Drogen wurden 2024 geraucht
Das veränderte Konsumverhalten Älterer zeigt sich im Erdgeschoss der Einrichtung an der Hoffnungstraße. Der Drogenkonsumraum bietet acht Plätze für intravenösen Konsum und fünf Plätze für inhalative Einnahme von Rauschmitteln. „Das spiegelt nicht mehr das tatsächliche Konsumverhalten wider“, sagt Jasmin Treichel. 2024 wurden in dem Essener Raum 61 Prozent der Drogen geraucht. Deshalb strebt die Suchthilfe eine Flexibilisierung der Konsumplätze an, wie es bereits andere Städte vorgemacht haben, zum Beispiel Frankfurt am Main.
Crack-Konsum mehr als verdoppelt
Immer mehr Menschen würden Crack rauchen, im vergangenen Jahr verzeichnete die Suchthilfe direkt 3802 Konsumvorgänge – mehr als doppelt so viele wie in 2020, sagt Ruben Planert. Die Droge auf Basis von Kokain wirkt schon wenige Sekunden, nachdem man sie geraucht hat. „Der Kick dauert nur eine bis maximal eineinhalb Minuten“, weiß Ruben Planert. Das Problem: Sofort danach beginnt der Suchtdruck von vorn, der Kreislauf von der Beschaffung bis zum Konsum startet erneut. „Oftmals sind es Crack-Konsumenten, die im Stadtbild durch auffälliges Verhalten oder lautes Schreien auffallen“, erklärt der Pressereferent. Crack verursache Schlafstörungen. Wenig Schlaf, gepaart mit dem hohen Ausschuss an Adrenalin begünstigen psychische Erkrankungen, die wiederum zu dem Verhalten führen, durch das sich immer mehr Bürger gestört fühlen.
Pädagogische Unterstützung für die Klienten garantiert
Anders als auf der Straße, finden Drogengebrauchende in den Räumen der Suchthilfe direkt Essen einen geschützten Raum. So können sie dort auch übernachten. „Bei uns ist die Sozialarbeit in das Angebot integriert, das heißt, unsere Klienten erhalten pädagogische Unterstützung“, sagt Jasmin Treichel. Tagsüber steht ein Café für Aufenthalte oder Mahlzeiten zur Verfügung. Sozialarbeiter und andere pädagogische Fachkräfte stehen den Menschen mit Rat und Tat zur Seite, helfen beispielsweise bei der Beantragung von Leistungen.
Pick-Up-Team unterstützt die Stadtreinigung
Jeden Tag startet auch das so genannte Pick-Up-Team von der Hoffnungstraße aus in den Dienst. Das sind bis zu zehn Klienten, die Aufgaben der Stadtreinigung übernehmen und an Drogen-Hot-Spots Drogenkonsummaterial einsammeln. „Die Aufgabe hilft, den Tag zu strukturieren“, sagt die pädagogische Leiterin, die auch auf das OPTI-Projekt mit 56 Plätzen an der Frohnhauser Straße verweist. Dort leisten Drogengebrauchende Gemeinwohlarbeit.
Ziel: das Überleben sichern
In den Räumen an der Hoffnungstraße geht es erstmal darum, das Überleben zu sichern. „Wir bilden einen Ort der Sicherheit, an dem wir versuchen, eine Bindung zu den Besuchern aufzubauen“, sagt Treichel. Denn ohne Vertrauen lässt die Klientel keine Hilfe zu. Und wie das Beispiel von Michi zeigt: Es gelingt leider nicht immer.