Wie so oft in Berlin erzählt ein kleines Detail große Geschichte. Beinahe wären wir an daran einfach vorbeiradelt. Dem monumentalen, aber dennoch unscheinbaren Adlerkopf vor dem Tempelhofgebäude hätte man so eine eigenwillige und irgendwie auch lustige Story der Berliner Nachkriegsgeschichte gar nicht zugetraut. Doch Professor Joseph Hoppe hat sie recherchiert und vor allem hat er sein Radel abgebremst und beginnt zu erzählen. Aber noch ein bisschen Geduld …
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Übrig ist noch der riesige Kopf. Der Adler krönte einst das Tempelhofgebäude in Berlin.
Foto: Doris Wegner
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Übrig ist noch der riesige Kopf. Der Adler krönte einst das Tempelhofgebäude in Berlin.
Foto: Doris Wegner
Mit dem Fahrrad Berlin nochmal neu entdecken
Berlin? Da kennt man doch schon alles. Die Mauer, das Brandenburger Tor, die proppenvollen Hackeschen Höfe, wer das alles schon gesehen hat, aber dennoch dem Lebensgefühl der Hauptstadt näher kommen will, kann die Stadt mit dem Fahrrad von einer unerwarteten Seite kennenlernen. Im eigenen Tempo. Ausgestattet mit Faltplan oder Navigation-App. Das Berliner Zentrum für Industriekultur hat bislang acht Routen durch Berlin ausgearbeitet. Wir sind auf der rund neun Kilometer langen Halbtagestour „Flieger und Feldlerchen“ unterwegs, die Anfang 2025 dazu gekommen ist. Beste Gelegenheit, den Flughafen Tempelhof und das riesige ehemalige Flugfeld kennenzulernen, das den Berlinern so wichtig ist, das sie für Urban Gardening und Freizeitsport nutzen, dessen Bebauung sie 2014 bei einem Volksentscheid erfolgreich verhindert haben. Und um es gleich vorweg zu sagen: die Halbtagestour kann man locker zur Tagestour ausdehnen, weniger wegen der sportlichen Anforderungen, sondern weil es geradezu unendlich viele historische Details und Hintergründe zu entdecken gibt.
20 Haltepunkte hat das Berliner Zentrum für Industriekultur in dem Plan rund um das Tempelhofer Feld verzeichnet. Einer davon ist der metallene Adlerkopf, der seinen neuen Bestimmungsort vor der ehemaligen Empfangshalle gefunden hat. Jetzt ist er nur noch ein unscheinbares Fragment. Während des Nazi-Regimes krönte der meterhohe Vogel auf einer Weltkugel stehend das Dach des sogenannten Ehrenhofes. Der Flughafen war damals als wichtiger Teil der geplanten Welthauptstadt Germania gedacht. Bekanntermaßen wurden die Pläne nie umgesetzt, der Krieg wurde verloren, der gigantische Flughafen nie zu Ende gebaut. Die Amerikaner übernahmen das Kommando, aber der Adler breitete weiterhin seine Schwingen über Tempelhof aus. Lediglich die Hakenkreuze waren entfernt worden. Doch kurioserweise malten die Amerikaner den Kopf an und so wurde übergangsweise aus dem Nazi-Emblem das Wappentier der USA: der Weißkopfseeadler. 1962 wurde der Adler demontiert und verschrottet. Nur der Kopf blieb erhalten – ohne Farbe – und erzählt nun auf seine Weise von Größenwahn, Pragmatismus der Nachkriegszeit – und von Berlin.
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Das Flughafengebäude ist 1,3 Kilometer lang.
Foto: stock.adobe.com
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Das Flughafengebäude ist 1,3 Kilometer lang.
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Die Bedeutung von Tempelhof für Berlin
„Tempelhof hat für die Berliner fast schon mythologische Bedeutung“, erzählt Joseph Hoppe, ehemaliger Vize-Direktor des Deutschen Technikmuseums. Im Ruhestand engagiert er sich nun für den Erhalt und die Wertschätzung von Industriekultur nicht nur in Berlin. Weil sie mehr über Orte erzählt, als auf den ersten Blick ersichtlich ist. Der Flughafen. Die Rosinenbomber. Das Tor zur freien Welt. Diese Bedeutung von Tempelhof sei tief in allen Schichten der Stadtgesellschaft verankert, sagt Hoppe, weiße Haare, große Statur, sanfter Berliner Dialekt.
Die Tour beginnt am Luftbrückendenkmal in Kreuzberg
Nur logisch also, dass diese Tour am Luftbrückendenkmal in Kreuzberg beginnt. In Berliner Schnauze: die Hungerharke. Tatsächlich symbolisieren die gebogenen Rippen aber die drei Luftkorridore zwischen West-Berlin und Westdeutschland. Täglich wurden ab Juni 1948 tausende Tonnen Fracht fast ein Jahr lang nach Berlin transportiert. Alle zwei Minuten landete auf dem Flughafen Tempelhof ein Flugzeug, um die Stadt mit allen lebensnotwendigen Gütern zu versorgen. Was kaum jemand weiß: Erst die Amerikaner nahmen den unvollendeten Tempelhof als Flugplatz in Betrieb, um die Versorgung Berlins bewerkstelligen zu können.
Tempelhof ist vom All aus zu erkennen
Hoppe radelt flott voraus. Es gibt viel zu erzählen. Und zu tun. Die Dimensionen des Flughafengebäudes sind so enorm, dass Tempelhof zu den Gebäuden zählt, die auch vom All aus sichtbar sind. Es dauert, bis wir das gigantische, ehemalige Flughafen-Gebäude abradeln. Es ist 1,3 Kilometer lang, natürlich halten wir immer wieder an. Über 7000 Räume sind in dem Bauwerk untergebracht. Wohl nur die Denkmalschützer kennen jedes Zimmer des Komplexes. 300.000 Quadratmeter sind insgesamt nutzbar. Eine Stadt in der Stadt irgendwie, die autark funktioniert hat. Und eine fast ebenso große Baustelle. Was man dem langen Gebäude auf den ersten Blick nicht ansieht: Es geht stellenweise elf Stockwerke in die Tiefe. Um das zu erkennen, muss man an der Polizei vorbei, die hier eine Dienststelle hat, in den Post- und Frachtenhof radeln. Erst jetzt beginnt man die Dimensionen des Gebäudes so richtig zu begreifen. Gedacht war das so, die tieferen Stockwerke waren für die Fracht und die Logistik, die oberen sollten dem Prestige dienen.
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Antje Bosholt und Joseph Hoppe vom Berliner Zentrum Industriekultur auf dem Tempelhofer Feld.
Foto: Doris Wegner
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Antje Bosholt und Joseph Hoppe vom Berliner Zentrum Industriekultur auf dem Tempelhofer Feld.
Foto: Doris Wegner
Zu Fuß wären wir chancenlos. Viel zu weitläufig das Ganze. Also weiter entlang des schier endlosen, düsteren Gebäudes. Die Inspiration für die Radrouten auf den Spuren der Berliner Industriekultur fand Hoppe, der leidenschaftliche Radfahrer, übrigens im Ruhrgebiet, wo es bereits ähnliche Touren zu den Industriedenkmälern der Kohleförderung gibt. Begeistert von der Idee, auch Berlins industrielles Erbe auch für ein breiteres Publikum sichtbar zu machen, kehrte Hoppe zurück. Ein Team, das sich im Berliner Zentrum für Industriekultur unter anderem aus Experten und Expertinnen der Architektur, Geschichtswissenschaft, Industriearchäologie und Stadtplanung zusammensetzt, entwickelte die Routen. Aber nicht nur die Sehenswürdigkeiten sind in dem detailgenauen Plan verzeichnet. Antje Bosholt, die Stadtplanerin, betont, auch Schwimmbäder, Gastronomie, Toiletten und Fahrradwerkstätten wurden recherchiert, damit die Radler und Radlerinnen mit Plan und App möglichst gut zurechtkommen.
„Die Touren kommen gut an“, freuen sich Bosholt und Hoppe. Und längst radeln nicht nur Touristen auf Spuren der Berliner Industriekultur. Auch die Berliner und Berlinerinnen gehen inzwischen auf Entdeckungstour in ihrer Stadt, steuern die Kulturbrauerei an, die AEG Apparatefabrik, den Historischen Hafen oder das Maggi-Haus an. Die meisten Strecken sind etwa 20 Kilometer lang. Die „Flieger und Feldlerchen“-Variante ist mit 8,5 Kilometern die kürzeste.
Die Geschichte von Tempelhof ist nicht die einfachste
Die Geschichte des Flughafens, der massiv wie eine Burg gebaut wurde, ist nicht die einfachste. Zwangsarbeiter wurden gezwungen, in unterirdischen Hallen Militärflugzeuge zu reparieren und zu bauen. Die Worte „Nichts mehr zu sehen“ im Gras direkt am Columbia-Damm erinnern an das erste Konzentrationslager in Berlin, das 1936, bevor die Olympischen Spiele in der Stadt stattfanden, wieder zugemacht wurde. Jahrzehntelang sei dieses frühe KZ in Berlin vergessen gewesen.
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Radfahrer sind heute auf der ehemaligen Startbahn mit Blick nach Osten
Foto: stock.adobe.com
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Radfahrer sind heute auf der ehemaligen Startbahn mit Blick nach Osten
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An den Sportanlagen der US-Truppen vorbei geht es auf das Tempelhofer Feld, das seit 2010 öffentlich zugänglich ist. Hier wird jetzt geskatet, geradelt, über die enorme Weite gestaunt, Gemüse gegärtnert. Eine Bebauung der riesigen Fläche lehnten die Berliner in einem Volksentscheid ab, dafür bauen jetzt die Feldlerchen ihre Nester auf den Biotopen zwischen den Landebahnen. Der Flugplatz hat sich zum wichtigen Areal für den Artenschutz mitten in der Stadt gemausert. Mit rot-weißen Absperrbändern werden die Brutgebiete der seltenen Feldlerchen geschützt. Und wer sein Radel mal abstellt, hört das lang anhaltende Flöten und Zirpen der Vögel. Manchmal werden auch Schafe auf das Feld getrieben. „Das ist dann eine ganz besondere, fast unwirkliche Atmosphäre hier“, erzählt Antje Bosholt. Einst war Tempelhof der meistbeflogene Flughafen Europas. Die Markierungen auf dem Asphalt, die Schilder, die Leuchtanlagen sind allesamt noch vorhanden und stehen unter Denkmalschutz wie das ganze Gebäude auch. Es dauert seine Zeit, bis wir die Landebahn in ihrer ganzen Länge abradeln, der Radarturm, der U.S. Army rechts des markanten Tempelhof-Runds mit seinen riesigen Hangaren allmählich mehr ins Bild rückt. Das Wahrzeichen Tempelhofs dient heute der Bundeswehr zur Überwachung des deutschen Luftraums, drei Hangare werden derzeit als Flüchtlingsunterkünfte genutzt und sind abgezäunt. Die Zukunft der Gebäude ist ungewiss. Immerhin der ehemalige Fluglotsentower ist seit zwei Jahren wieder zugänglich. Auf dem THF Tower wird derzeit an einer Ausstellung gearbeitet und manchmal findet dort oben auch eine Yoga-Session statt. Auch das ein vielsagendes Detail in der wechselhaften Geschichte von Tempelhof.
Die Autorin recherchierte auf Einladung von Visitberlin.
Berlin mit dem Rad in Kürze
Fahrradrouten der Industriekultur: Das Berliner Zentrum für Industriekultur hat acht Routen durch Berlin ausgearbeitet. Die meisten sind rund 20 Kilometer lang. Die Tour „Flieger und Feldlerchen“ ist mit 8,5 Kilometern die kürzeste. Die Radstrecken führen über Rad- und Uferwege bzw. ruhige Nebenstraßen. Die Flyer sind kostenlos, liegen im Deutschen Technikmuseum aus. Sie können kostenfrei per E-Mail (kontakt@industriekultur.berlin) bestellt werden oder als PDF von der Homepage heruntergeladen werden. Dort gibt es auch GPX-Tracks und den Link zum Routennavigator komoot. https://industriekultur.berlin/erleben/fahrradrouten
Fahrräder: Einige Hotels verleihen gegen Gebühr Fahrräder. Etwa Grimm‘s Hotel an der Flottwellstraße. In Berlin gibt es aber auch mehrere Fahrrad-Verleihstationen.
Besucherzentrum Tempelhof: geführte Touren durch das Gebäude werden im Besucehrzetrum angeboten. Der THF Tower mit der Dachterrasse ist derzeit nur an ausgewählten Wochenenden geöffnet. https://www.thf-berlin.de.
Allgemeine Informationen über Berlin: www.visitberlin.de. Hier gibt es alle Infos zu den klassischen Sehenswürdigkeiten, aber auch Tipps für Fahrradfahrer.
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