Meinung
Innovation statt Geldflut –
Wo Europa mit seiner Investitionsstrategie falschliegt
Die EU will ihre Investitionen deutlich steigern. Doch Japan stagniert trotz hoher Investitionsquoten seit Jahrzehnten. Das zeigt, die wahre Herausforderung liegt anderswo.
Kommentar von Publiziert: 21.08.2025, 10:31
Mario Draghi während einer Pressekonferenz in Brüssel 2024 bei der Vorstellung seines Berichts zur Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit.
Bild: Simon Wohlfahrt/Bloomberg
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Im vergangenen Jahr legte der ehemalige italienische Ministerpräsident Mario Draghi einen wegweisenden Bericht über die Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit vor, in dem er der Europäischen Union empfahl, die jährlichen Investitionen um mehr als 800 Mrd. € zu erhöhen – das entspricht mehr als 4% ihrer jährlichen Wirtschaftsleistung (BIP).
Draghis Bericht ist inzwischen zur intellektuellen Grundlage einer ehrgeizigen Strategie zur Wiederbelebung des Wachstums in Europa geworden. Doch sollte Europa vorsichtig sein mit dem, was es sich wünscht. Wie das Beispiel Japans gezeigt hat, sind Investitionen kein Allheilmittel.
Lehren aus Fernost
Die Idee, dass höhere Investitionen der Schlüssel zum wirtschaftlichen Erfolg sind, ist in Europa sehr verbreitet. Die sogenannte Lissabon-Strategie aus dem Jahr 2000 sah vor, die Investitionen in Forschung und Entwicklung auf 3% des BIP zu erhöhen. Dieses Ziel steht seit einem Vierteljahrhundert auf der offiziellen EU-Agenda, wurde aber nie erreicht.
Im Jahr 2015 fügte die Europäische Kommission ein weiteres Investitionsziel hinzu: Mit ihrer Investitionsoffensive für Europa sollten innerhalb von drei Jahren zusätzliche Investitionen in Höhe von 315 Mrd. € mobilisiert werden, um die Wettbewerbsfähigkeit und das langfristige Wachstum zu steigern.
Doch haben Investitionen Japan nicht vor seiner jahrzehntelangen Stagnation bewahrt. Seit 1970 belaufen sich die japanischen Bruttoanlageinvestitionen im Durchschnitt auf 30% des BIP – und liegen oft deutlich höher. Das ist nicht nur viel mehr als der EU-Durchschnitt, sondern auch als die Rate in Deutschland, der stärksten Volkswirtschaft der EU, wo die Bruttoanlageinvestitionen bei etwa 23% des BIP lagen.
Die Differenz von vier Prozentpunkten zwischen den jüngsten Werten (26% in Japan und 22% in Deutschland und der EU) beträgt etwa 800 Mrd. € jährlich – genau jenen Betrag, den Draghi als Erhöhung der Gesamtinvestitionen in der EU empfiehlt.
«Wie erklärt sich die schwache Wirtschaftsleistung Japans? Die Antwort ist nicht die ungünstige demografische Entwicklung.»
Natürlich kommt es auch auf die Art der Investitionen an. Während Investitionen in neue Maschinen abnehmende Erträge bringen, sobald ein Unternehmen über genügend Kapazitäten verfügt, um den Markt zu bedienen, sollten Investitionen in neue Ideen theoretisch keinen derartigen Beschränkungen unterworfen sein.
Betrachtet man jedoch nur die Investitionen in Forschung und Entwicklung, so schneidet Japan noch besser ab. Im Jahr 2000, als die EU ihr Ziel für die Lissabon-Strategie festlegte, investierte Japan bereits fast 3% seines BIP in Forschung und Entwicklung – eine Rate, die es in den letzten 25 Jahren beibehalten hat, während der EU-Durchschnitt bei lediglich 2% lag.
Doch trotz beeindruckender Investitionsraten in Anlagekapital und Forschung und Entwicklung hat sich Japans Wirtschaft im letzten Vierteljahrhundert abgeschwächt. In den 80er- und 90er-Jahren war Japan – angetrieben von einem Fertigungssektor, der unschlagbar schien – die zweitgrösste Volkswirtschaft der Welt.
Heute ist Japan die viertgrösste Volkswirtschaft der Welt und ist, teilweise bedingt durch die Abwertung des Yen, vor Kurzem hinter Deutschland zurückgefallen, und das, obwohl der Inselstaat eine viel grössere Bevölkerung hat (120 Mio. gegenüber 80 Mio.).
Fruchtbarer Boden für Rechtsaussen
Man könnte nun einwenden, dass dies ein unfairer Vergleich sei, weil die Bewertung einer Volkswirtschaft zu aktuellen Wechselkursen ohne Berücksichtigung von Inflationsunterschieden die Lebensqualität nicht angemessen spiegelt. Betrachtet man jedoch das Pro-Kopf-Einkommen nach Kaufkraftparität, so lag Japan vor 20 Jahren in etwa gleichauf mit Deutschland und steht heute schlechter da als Italien.
In jedem Fall sind die Wechselkurse nicht irrelevant, zumindest nicht politisch: Die Japaner sind sich ihrer schwindenden Kaufkraft durchaus bewusst, wenn sie ins Ausland reisen, und sie bemerken zweifellos, dass ausländische Touristen mit ihrer Kaufkraft in Japan protzen. Dies mag dazu beigetragen haben, einen fruchtbaren Boden für die extreme Rechte zu schaffen.
Wie erklärt sich also die schwache Wirtschaftsleistung Japans? Die Antwort ist nicht die ungünstige demografische Entwicklung. Tatsächlich schrumpft die Bevölkerung Japans nicht annähernd so schnell, wie die landläufige Meinung vermuten lässt: Sie ist seit der Jahrhundertwende um nur 3 Mio. auf knapp 124 Mio. im letzten Jahr gesunken, während die Beschäftigung um 10 Prozentpunkte gestiegen ist.
Um Japans Schwierigkeiten zu erklären, muss man hinter die Investitionszahlen blicken. Zwar wird viel in Forschung und Entwicklung investiert, doch geschieht dies vor allem in grossen Unternehmen, die in erster Linie an der Verbesserung bestehender Produkte oder Verfahren interessiert sind, statt radikal neue Ideen oder Technologien zu entwickeln.
Echte Innovation findet viel eher in Start-ups statt, aber in Japan – wie auch in der EU – sind die Unternehmen, die am meisten für Forschung und Entwicklung ausgeben, seit Jahrzehnten dieselben.
Es kommt auf Innovation an
Die Grossunternehmen haben die Begrenztheit ihrer internen Forschungs- und Entwicklungsbemühungen erkannt. Einige haben sogar spezielle Abteilungen für Corporate Venture Capital (CVC) geschaffen, die ausserhalb ihrer Unternehmensstrukturen nach vielversprechenden Ideen suchen sollen.
Trotzdem entfielen im Jahr 2022 nur 7,3% der weltweiten CVC-Investitionen auf die führenden japanischen Investoren im Bereich Forschung und Entwicklung. Das ist etwa ein Drittel des Anteils der EU-Unternehmen (22%). Bedenkt man jedoch, dass die EU-Wirtschaft etwa viermal so gross ist wie die japanische, sind diese Werte relativ gesehen ähnlich.
Allerdings schnitt die EU bei einer anderen Kennzahl viel besser ab als Japan: Über 40% der CVC-Investitionen europäischer Unternehmen gingen an lokale Start-ups. In Japan war dieser Anteil mit 0,01% verschwindend gering, der Rest ging hauptsächlich an Start-ups in den USA.
Darüber hinaus haben US- und sogar japanische Unternehmen beträchtliche CVC-Mittel für EU-Unternehmen bereitgestellt, die im Jahr 2022 insgesamt etwa 9% der weltweiten CVC-Finanzierungen auf sich zogen. Das ist deutlich weniger als die 80%, die in die USA flossen, aber auch deutlich mehr als der winzige Anteil – fast null –, der nach Japan ging.
Die Lehre für die EU ist klar: Statt sich nur auf die Erhöhung der Investitionen zu konzentrieren, sollte sie versuchen, ihr Innovationsökosystem zu pflegen und zu stärken. Nur dann wird sie in der Lage sein, jene Art von bahnbrechenden Ideen und Erfindungen hervorzubringen, die im 21. Jahrhundert die Grundlage für die globale Wettbewerbsfähigkeit bilden.
Copyright: Project Syndicate.
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EinloggenDaniel Gros ist Direktor des europapolitischen Instituts der Università Commerciale Luigi Bocconi.Mehr Infos
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