Der Innenverteidiger Minjae Kim hat auf den ersten, zweiten und dritten Blick wenig mit dem Spielmacher Diego Armando Maradona gemeinsam. Kim ist 1,90 Meter groß, Maradona maß 1,65 Meter, Kim ist Südkoreaner, Maradona war Argentinier, vor allem sind ihre Fähigkeiten auf dem Fußballfeld sehr, sehr unterschiedlich. An diesem Freitagabend aber trieb Kim den Ball nach 77 Minuten so lange über den Platz, dass sein Innenverteidigerkollege Jonathan Tah hinterher schmunzelnd von einem „Maradonalauf“ sprach.
Kim hatte den Ball tief in der eigenen Hälfte gewonnen und war dann bis zum gegnerischen Strafraum gerannt. Ein 40-Meter-Solo, mindestens. Am Ende dieses Solos passte er zu Harry Kane, der schoss den Ball ins Tor. Es war ein demütigender Moment für RB Leipzig, weil es das sechste Gegentor an diesem Abend war. Und es war ein bezeichnender Moment, weil Kim auf dem Weg zu diesem Tor kaum bedrängt und erst recht nicht gestört wurde.
Ein leistungsgerechtes 0:6
Es hätte ein Spitzenspiel werden sollen, dieses 6:0 (3:0) des FC Bayern gegen RB Leipzig, das hätte gepasst zum großen Anlass, der Eröffnung der 63. Bundesligasaison. Aber zu einem Spitzenspiel hätte eine zweite Spitzenmannschaft gehört, und RB Leipzig sah an diesem Freitagabend teilweise nicht einmal wie eine Durchschnittsmannschaft aus. Dieses 0:6, sagte Leipzigs neuer Trainer Ole Werner nach dem Spiel, sei ein Ergebnis, das der Leistung seiner Mannschaft entspreche.
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Die Spitzenmannschaft, die auf dem Feld stand, tat in der ersten Halbzeit dieser Saison, was sie auch in den ersten Spielen der Vorsaison so eindrucksvoll getan hat. Sie nahm dem Gegner schon die Luft, wenn er einen Angriff beginnen wollte, sie hielt ihn im Würgegriff mit der Art, wie sie verteidigte. Nach 19 Minuten tauchte Dayot Upamecano einmal im Strafraum von RB Leipzig auf – nicht, weil die Bayern einen Eckball ausführen sollten, sondern einfach, weil sein Gegenspieler Xavi Simons dorthin gelaufen war, um mal in Ruhe den Ball in Empfang zu nehmen. Aber er bekam in dieser Phase keine Ruhe. Mehr als einmal mündete ein Angriff in einen am Boden sitzenden Leipziger Stürmer, der sich gestenreich empörte, dass er schon wieder an Jonathan Tah abgeprallt war.
Erzielt seine Tore Nummer 63 bis 65 für die Bayern: Harry Kane (r.)EPA
In der 27. Minute war es Openda, der am Boden saß, als die Bayern ihren Angriff starteten. Eine halbe Minute später traf Michael Olise den Ball mit seinem rechten – eigentlich schwächeren – Vollspann und versenkte ihn im Tor. Und fünf Minuten später ruderte Joshua Kimmich mit den Armen und öffnete den Mund zu einem Kimmich-Brüllen, weil er so beglückt war von dem, was er gesehen hatte.
Kurze, schnelle, kreative Pässe
„Ich fand das Tor extrem“, sagte Kimmich, als er kurz vor Mitternacht in der Interviewzone stand. „Ich weiß nicht, ob man das von außen so spürt, aber für uns hat sich das sehr, sehr gut angefühlt.“ Weil dieses 2:0 die Art und Weise spiegele, wie die Bayern Fußball spielen wollten. Kurze, schnelle, kreative Pässe, auch dann, gerade dann, wenn für diese Pässe nicht viel Raum ist, weil überall das Bein eines Gegners im Weg ist. Am Ende der Passreihe schob Serge Gnabry den Ball mit seiner rechten Hacke zu Luis Díaz, der hieb ihn unter die Latte. Möglich, dass man in dieser Saison nicht mehr viele so fein herausgespielte Tore sieht, sicher nicht außerhalb von München.
Es war die Art von schnellem Angriff, bei der auch hellwache Verteidiger mal einen Schritt zu spät sein können: weil die Angreifer immer den Vorteil haben, einen Moment eher zu wissen, was als Nächstes geschieht. Der Angriff aber, der kurz darauf zum dritten Tor führte, war keiner, bei dem die Verteidiger machtlos wirkten. Eher leblos. Serge Gnabry konnte sehr entspannt auf Leipzigs Strafraum zurennen, und nachdem er Michael Olise den Ball zugespielt hatte, konnte der ihn ziemlich ungestört ins Tor schieben. Womit die Phase eingeläutet war, von der Ole Werner hinterher sagte, man sei auseinandergefallen.
Es sollte alles anders werden bei RB Leipzig in dieser Saison, nach der schlechtesten Spielzeit in der Erstligageschichte des Vereins. Nun stand am späten Abend der Kapitän David Raum vor dem Spiel etwas beschämt vor einem Grüppchen Journalisten und sagte: „Man muss ganz klar ansprechen, dass wir heute in alte Facetten zurückgefallen sind. Dass wir leider auch auseinandergebrochen sind.“ Weil sie es den Bayern beim vierten Tor genauso leicht machten wie beim dritten, weil auch Harry Kane am Ende zufrieden nach Hause fahren durfte, nachdem er sein 63., sein 64. und sein 65. Bundesligator geschossen hatte.
Kimmich ließ nicht locker und das 1:4 wurde zurückgenommen
Als die Bayern dann doch mal nachließen, ein paar Fehler machten, waren die Leipziger nicht fähig, sie zu nutzen. Und sei es, weil sie einen Freistoß falsch ausführten wie vor dem 1:4 durch Antonio Nusa – das dann doch nicht das 1:4 war, weil Castello Lukeba mit dem Ball einfach losgedribbelt hatte, bevor er ihn in die Platzhälfte der Münchener schoss. Das fiel nur Joshua Kimmich auf, der die Gelbe Karte sah, weil er sich beschwerte, dadurch aber auch erreichte, dass das Tor noch mal geprüft und zurückgenommen wurde.
Das Spiel aber wäre da ohnehin entschieden gewesen. Uli Hoeneß und Max Eberl, die in den vergangenen Tagen aus der Distanz ihre Uneinigkeit in Transferfragen demonstriert hatten – weil Hoeneß will, dass die Bayern nur noch einen Spieler leihen, statt einen zu kaufen, und Eberl das offenbar nicht übermäßig klug findet –, hatten sich auf der Tribüne schon versöhnlich die Hand gereicht, unten standen der Nachwuchsmann Lennart Karl und der Verkaufskandidat Minjae Kim zur Einwechslung bereit. Jener Kim, der kurz vor Schluss zum Spielmacher wurde und Kane das letzte Tor auflegte.
„Ich denke, dass es so reibungslos lief wegen der Art, wie wir waren“, sagte Harry Kane hinterher. „Ich glaube nicht, dass das etwas mit ihnen zu tun hat.“ Aber es war beides: Den Bayern gelang an diesem Abend so viel, dass sogar aus Minjae Kim ein großer Solist wurde, und die Leipziger traten so auf, dass aus Minjae Kim ein großer Solist werden konnte. Und so diente dieses Spiel auch als frühe Erklärung dafür, warum vor diesem Spiel 18 von 18 Bundesliga-Trainern auf die Bayern als neuen deutschen Meister getippt hatten.