Leipzig. Der Aufruhr, der an der Gerda-Taro-Schule ausgebrochen ist, dürfte vielen weiteren Leipziger Schulen noch bevorstehen. „Wir sind alle schockiert“, sagt Vivien Hild, die Elternratsvorsitzende des Gymnasiums. „Das Mail-Postfach des Elternrats läuft heiß.“ Als Mitte der Woche Elternabende in drei Jahrgängen stattfanden, „war es das einzige Thema“, fügt sie an. In den übrigen Stufen folgen die Elternabende erst – so wie an den meisten anderen Leipziger Schulen.
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Den Grund für die Aufregung liefert ein fünfseitiger Elternbrief der Taro-Schulleitung vom Anfang der Woche. Es ist keine einfache Materie, aber zwei zentrale Botschaften sind leicht zu verstehen: Erstens rechnet die Schulleitung damit, dass bald weit mehr Unterricht ausfällt als in den Vorjahren. Zweitens werden in diesem Schuljahr voraussichtlich viele nicht verpflichtende Klassenfahrten, Exkursionen, Schüleraustausche und Wandertage gestrichen. Jessika Sommer, kommissarische Leiterin der Gerda-Taro-Schule, wirkt konsterniert und traurig, als sie sagt: „Wir waren noch nie in dieser Situation. Das ist Sparen am falschen Ende!“
Kürzung der „MAU-Stunden“
Kai Bartholomäus ist Vorsitzender des Leipziger Kreis-Elternrats (KER). Er spricht für die Eltern und Sorgeberechtigten aller rund 62.000 Leipziger Schülerinnen und Schüler. „In den nächsten Wochen werden sie alle erfahren, dass es ihren Kindern genauso ergeht“, vermutet er. Bartholomäus hat keine Scheu vor deutlichen Worten: „Es ist eine Riesenschweinerei.“
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Einige der 21 Maßnahmen, mit denen Sachsens Kultusminister Conrad Clemens (CDU) den Unterrichtsausfall erklärtermaßen halbieren möchte, haben bereits zu vielfältigen Lehrerprotesten geführt: Zwangsversetzungen und die Reduzierung der sogenannten Abminderungsstunden zum Beispiel. „Jetzt“, so sagt Vivien Hild, „bekommen wir Eltern und unsere Kinder es zum ersten Mal direkt zu spüren“. KER-Chef Bartholomäus gibt zu, dass er in den vergangenen Tagen ein neues Wort gelernt habe: „MAU-Stunden“. Und dass nun zu erleben sei, was passiert, wenn sie gekürzt werden.
Eine Schulklasse beim Wandertag: Sparmaßnahmen könnten in Sachsen dazu führen, dass es dafür in diesem Schuljahr weit weniger Gelegenheiten als bisher gibt.
Quelle: Uwe Zucchi/dpa
„MAU“ steht für „Mehrarbeitsunterrichtsstunden“. Um den massiven Lehrermangel in Sachsen abzufedern, konnten bislang alle Schulen sie anordnen, wenn eine Lehrkraft den Unterricht eines erkrankten Kollegen übernahm oder wenn eine Klassenfahrt weit mehr Zeit beanspruchte als der alltägliche Schuldienst. Meistens erhielten die Lehrerinnen und Lehrer Geld für ihre Überstunden – schon, weil Freizeitausgleich nur den personellen Engpass verschärft.
Nach Auskunft des Sächsischen Kultusministeriums (SMK) hat man die MAU-Stunden bisher „nach Bedarf aus nichtbesetzten Lehrerstellen bezahlt“. 2024 seien sachsenweit 257.671 MAU-Stunden aufgelaufen – zu viel nach Ansicht des Sächsischen Rechnungshofes. Daher seien die MAU-Stunden jetzt im Doppelhaushalt 2025/26 gedeckelt. „Seit diesem Schuljahr gibt es die Budgetierung für Schulen entsprechend ihrer Größe“, erklärt ein Ministeriumssprecher.
Es kann also zu Unterrichtsausfällen kommen, obwohl eine Lehrkraft zur Verfügung stehen würde.
Aus einem Elternbrief der Gerda-Taro-Schule
Eine große Schule wie das Taro-Gymnasium hatte bisher den Vorteil, Unterrichtsausfall weitgehend durch Überstunden aus dem eigenen Kollegium zu verhindern. Doch ab sofort ist das nicht mehr möglich, sobald das MAU-Kontingent überschritten ist: „Ich bin fassungslos, dass wir Lehrkräfte, die freiwillig MAU-Stunden über das Maß hinaus leisten würden, um personelle Schieflagen zu kompensieren, nicht mehr einsetzen dürfen“, sagt Sommer. Im Elternbrief haben ihr kommissarischer Stellvertreter Kevin Henning und sie es so formuliert: „Es kann also zu Unterrichtsausfällen kommen, obwohl eine Lehrkraft zur Verfügung stehen würde.“
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Die Taro-Schule benötigte in den Vorjahren monatlich etwa 170 MAU-Stunden. Doch im August, September und Oktober darf Sommer höchstens jeweils 56 anordnen. Und von November bis Juni nur noch 32 MAU-Stunden pro Monat: weniger als ein Fünftel des bisherigen Bedarfs. „Wir Schulleiter hatten nicht einmal genug Zeit, uns darauf vorzubereiten“, kritisiert sie. Erst am Dienstag der letzten Ferienwoche sei die Nachricht eingegangen.
Elternratsvorsitzende Vivien Hild: „Wir wären ja alle froh, wenn es die MAU-Stunden nicht geben müsste.“ Doch dieses Mittel der Mangelverwaltung kaputt zu sparen, ohne zuerst das Problem dahinter zu lösen – den Lehrerengpass: „Mir fehlen die Worte.“ Schulleiterin Sommer befürchtet, dass „volle Lehrpläne nicht mehr zu schaffen sein werden“. Und wenn bereits in unteren Klassen Wissensgrundlagen fehlten, gefährde das am Ende auch die Abiturprüfung. Bartholomäus: „Der Kultusminister betont ständig, dass er nicht an der Bildung sparen werde. Aber genau das passiert.“
Weniger Lehreraufsicht in Freistunden
Darüber hinaus hat man an der Taro-Schule beschlossen, die Lehreraufsicht zu minimieren, um Stunden zu sparen. In kurzfristigen Freistunden soll die Tür einer unbeaufsichtigten Klasse offen bleiben und eine Lehrkraft aus dem Nachbarraum ab und zu nach dem Rechten sehen – neben dem eigenen Unterricht. Wenn die Eltern zustimmen, soll es den Schülerinnen und Schülern künftig bereits ab Klasse 9 erlaubt werden, in solchen Fällen das Schulgelände zu verlassen.
„Die fakultativen Klassenfahrten in den Jahrgängen 6 und 9 können in diesem Schuljahr nicht stattfinden“, ist im Taro-Elternbrief zudem zu erfahren. Verpflichtende Exkursionen sollen möglichst nicht mehr weit weg führen, um Lehrerzeit zu sparen. An Austauschfahrten werde man nur noch festhalten, wenn die Verträge schon unterschrieben oder das Geld bereits bezahlt sei. Die Abschlussfahrten der zehnten Klassen, bevor die Jugendlichen ins Kurs-System wechseln, ließen sich allenfalls mithilfe mitfahrender Eltern retten. „Es trifft Kinder“, sagt Elternsprecherin Vivien Hild, „die schon in der Corona-Zeit auf Ausflüge verzichten mussten“.
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Vor allem jener Schulbereich sei betroffen, heißt es im Elternbrief, der „für die Bindungs- und Erziehungsarbeit von Bedeutung ist“. Und: „Wir möchten ausdrücklich betonen, dass diese Kürzungen nicht von der Schule, der Schulleitung oder den Lehrkräften gewünscht sind. Stattdessen handelt es sich um eine Sparmaßnahme des Kultusministeriums zur Minimierung der Schulden aufgrund fehlender Steuereinnahmen vorangegangener wirtschaftsschwacher Jahre.“
Mittlerweile ist man sich auch im Kultusministerium offenbar nicht mehr so sicher, ob das Ganze so eine gute Idee ist. Über sein Pressereferat übermittelt Minister Conrad Clemens einen einzigen zitierbaren Satz: „Wir sehen den Bedarf bei den MAU-Stunden, bessern nach und werden dies zügig kommunizieren.“ Folgt die Rückwärtsrolle vielleicht noch vor den jetzt anstehenden Elternabenden?
LVZ