Die letzten Wochen haben vor Augen geführt, was Rechtsunsicherheit für die Schweiz bedeutet und was es heissen würde, sollten auch die Beziehungen zu Europa in den Strudel der Ungewissheit geraten.
Das niedrige Verteidigungsbudget der Schweiz steht wohl für die Hoffnung, dass es im Ernstfall schon andere richten würden.
Valentin Flauraud / Bloomberg / Getty
In den kommenden Monaten werden die grundlegenden Weichen für die Beziehungen der Schweiz zur EU gestellt. Der Schweizer Souverän wird sich entscheiden müssen: beim Abkommenspaket zur Stabilisierung und Weiterentwicklung der bilateralen Beziehungen (Bilaterale III), das institutionelle Regelungen sowie Abkommen in den Bereichen Strom, Gesundheit und Landwirtschaft umfasst. Aber auch bei mehreren Volksinitiativen: Nachhaltigkeitsinitiative («10-Millionen-Schweiz»), Grenzschutzinitiative, Neutralitätsinitiative und Kompass-Initiative.
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Die Schweiz steht somit vor einer Grundsatzentscheidung: Welche Rolle will sie in Europa spielen? Mehr Abseitsstehen oder vertiefte Zusammenarbeit? Europa ist für die Schweiz wirtschaftlich, politisch und kulturell von zentraler Bedeutung.
Über 120 bilaterale Abkommen verbinden die Schweiz mit der EU. Trotz diesem engmaschigen Netz ist ihr Beitrag zur europäischen Zusammenarbeit, Sicherheit und Solidarität im Vergleich zu den EU- oder EWR-Staaten unterdurchschnittlich. So hat die Schweiz seit 2007 jährlich etwas mehr als 210 Millionen Franken an Kohäsionsbeiträgen zugunsten wirtschaftlich weniger entwickelter europäischer Länder geleistet, eine moderate Summe verglichen mit ähnlich starken EU-Mitgliedsstaaten.
Auch das Verteidigungsbudget der Schweiz steht mit 0,8 Prozent des BIP wohl eher für die Hoffnung, dass es im Ernstfall andere richten würden. Norwegen, Dänemark oder die Niederlande investieren hingegen das Doppelte oder Dreifache. Schliesslich die Unterstützung der Ukraine: Die Schweiz hat bis Mitte 2025 rund drei Milliarden Franken zugesagt. Sie beteiligt sich jedoch nicht an militärischer Unterstützung und untersagt den Reexport von Waffen.
Die Schweiz profitiert stark vom sektoriell privilegierten Zugang zum europäischen Binnenmarkt, zum Forschungsraum und zur Stabilität der europäischen Sicherheitsarchitektur. Sie nutzt die Vorteile des europäischen Systems überproportional aus, beteiligt sich aber wenig an dessen Aufbau, so die Kritiker. Dieser Vorwurf ist jedoch überspitzt. Die Schweiz verfolgt bewusst einen Weg, der ihre Eigenständigkeit wahrt. Sie ist nicht Mitglied der EU. Deshalb können auch nicht vergleichbare Leistungen erwartet werden.
Angesichts des unberechenbaren amerikanischen Präsidenten und globaler Herausforderungen, wie Krieg in Europa, Klimakrise, Migration und wirtschaftliche Unsicherheit, muss die Schweiz ihre Interessen im europäischen Kontext trotz alledem künftig besser wahrnehmen können, ohne dabei ihre zentralen Werte wie ihre direkte Demokratie zu opfern.
Doch die laufenden Volksinitiativen zielen alle in die Gegenrichtung, nämlich auf einen Rückbau der Zusammenarbeit: Die Nachhaltigkeitsinitiative stellt die Personenfreizügigkeit infrage; die Neutralitätsinitiative unterbindet die Übernahme von EU-Sanktionen gegen Russland; die Grenzschutzinitiative gefährdet das Schengenabkommen, und die Kompass-Initiative beschneidet die aussenpolitischen Kompetenzen von Parlament und Bundesrat und verlangt rückwirkend eine erneute Volksabstimmung über die Bilateralen III, was staatspolitisch höchst fragwürdig ist.
Obwohl die Initianten die Verbundenheit der Schweiz mit Europa nicht negieren, bieten sie keine tragfähigen Lösungen zur Festigung der bestehenden Beziehungen an. Mögliche Gegenreaktionen der EU wie beispielsweise Erschwernisse für Exporte, der Ausschluss aus den für die Schweiz so wichtigen Forschungsprogrammen oder eine eingeschränkte Europa-Perspektive für die Teilnahme der jungen Generation am europäischen Bildungs- und Arbeitsraum werden kleingeredet.
Ein trügerischer Status quo
Ein Verzicht auf die Bilateralen III würde den Fortbestand sowie den Ausbau der Zusammenarbeit gefährden. Die EU hat mehrfach betont, dass sie unter den heutigen Bedingungen keine bestehenden Abkommen aktualisieren oder neue abschliessen werde. Der bilaterale Weg würde zum Auslaufmodell werden.
Um Diskriminierung oder administrative Erschwernisse für unsere Exportwirtschaft zu vermeiden, wäre die Schweiz ohne die Bilateralen III faktisch gezwungen, künftig noch mehr EU-Recht als bisher durch die verpönte autonome Rechtsübernahme anzuwenden, verpönt, weil diese ohne Einflussmöglichkeit ist und entsprechend mit dem Anspruch auf Souveränität kollidiert. Die gegenwärtige Debatte hierzulande über Souveränität gaukelt eine Eigenständigkeit vor, die der Realität widerspricht. Die EU-Mitgliedsländer bestimmen die Binnenmarktgesetze, die Schweiz zieht ganz oder teilweise autonom nach.
Mit dem neuen Vertragswerk soll das Verhältnis zur EU auf eine stabile Basis gestellt werden. Es strebt eine sektoriell massgeschneiderte Beteiligung am Binnenmarkt und eine Zusammenarbeit in ausgewählten Bereichen an. Voraussetzung dafür sind die Klärung der beschriebenen institutionellen Fragen sowie höhere Kohäsionszahlungen.
Im Gegenzug bietet die EU Mitspracherechte bei der Ausarbeitung von abkommensrelevantem Binnenmarktrecht, eine verlässliche Rechtsgrundlage für bestehende und künftige Abkommen sowie einen verbindlichen Streitbeilegungsmechanismus durch ein paritätisches Schiedsgericht an. Dadurch wird dem vorgebeugt, dass die Schweiz – wie in der Vergangenheit geschehen – willkürlichen Massnahmen ausgesetzt ist. Die Bilateralen III stärken die Rolle der Schweiz. Sie stellen einen Vertrag dar, der im Vergleich zur heutigen Situation eine Aufwertung bietet.
Die Frage des Doppelmehrs
Die Gegner bemängeln die dynamische Rechtsübernahme, die Auslegungshoheit des EuGH für das EU-Binnenmarktrecht sowie den finanziellen Beitrag zum EU-Kohäsionsfonds. Auch die direkte Demokratie werde tangiert, obwohl ein Referendum gegen EU-Rechtsübernahmen immer möglich bleibt, was allerdings zu verhältnismässigen Ausgleichsmassnahmen der EU führen könnte. Entsprechend verlangen sie ein obligatorisches Referendum zu den Bilateralen III, wohlwissend, dass das Ständemehr schwer zu erreichen ist.
Man mag die Prozesse innerhalb der EU, die Bürokratie, die komplexen Entscheidungsstrukturen kritisieren. Man mag den Verlust an faktischer Souveränität beklagen, der sowohl mit den Bilateralen III als auch mit dem Abseitsstehen einhergeht. Doch die Schweiz steht in Europa nicht am Rand, sondern ist durch ihre offenen Grenzen, die enge Verflechtung und ihre gesellschaftlichen Werte tief in das europäische Haus eingebunden. Nicht umsonst prägte der verstorbene Publizist Peter von Matt den Leitsatz: «Unsere Heimat ist die Schweiz, die Heimat der Schweiz ist Europa.»
Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger werden sich für einen Rückbau oder für gesicherte und stärkere Beziehungen mit ihrem wichtigsten Partner entscheiden müssen und damit die Rolle der Schweiz in Europa als Zuschauer oder als Mitakteur definieren.
Jean-Daniel Gerber ist ehemaliger Staatssekretär für Wirtschaft (Seco).