Kunst im öffentlichen Raum

Murals an Berliner Hauswänden: Was ist da eigentlich zu sehen?

So 24.08.25 | 10:50 Uhr | Von Julia Sie-Yong Fischer

Symbolbild:Eine großflächige Streetart Wandmalerei zeigt einen Elefanten.(Quelle:imago images/Dreamstime)Bild: imago images/Dreamstime

Viele Street-Art-Wandgemälde in Berlin – sogenannte Murals – verstehen sich als gesellschaftskritische Kunst. Ihre Bildsprache ist dabei auffällig, aber nicht immer klar. Von Julia Sie-Yong Fischer

Eine nackte Frau von hinten, mit Federn geschmückt, ihr Arm zu einem Ast mutiert. Ein bunter Elefant, mit Mustern überzogen, er hält die Erde in Form eines Ballon im Rüssel. Weltraum, Comicfiguren, Tiere, Ornamente und Porträts: An fast jeder Ecke Berlins haben Street Artist ganze Hauswände mit aufsehenerregenden Motiven gestaltet.

Tourist:innen posten sie auf Instagram, Anwohner:innen nehmen diese „Murals“, von denen es in Berlin mehrere Hundert gibt, stillschweigend zur Kenntnis. Dabei kann die „Open-Air-Galerie der Hauptstadt“ laut der stadteigenen Agentur für Tourismus Marketing Visit Berlin ohne Eintrittspreise und zu jeder Öffnungszeit von allen angeschaut werden.

Unklar bleibt jedoch oft, was die Künstler:innen über den Überraschungseffekt hinaus ausdrücken wollen. Laut der Webseite des Street-Art Museums Urban Nation [urban-nation.com] spielen soziale und gesellschaftliche Aspekte bei der Auswahl der Motive immer wieder eine Rolle. Es gehe meist um Themen, die alle Generationen bewegen und die dadurch einen gesellschaftlichen Dialog schaffen, so das Museum, das in Berlin-Schöneberg beheimatet ist und sich als Plattform für urbane Kunst versteht. Doch kommt die Message tatsächlich an?

Ein Blick auf fünf von Urban Nation beauftragte Murals in Schöneberg und Kreuzberg.


Flache Löcher

Das Mural "Holes" des Streetartists TenTen in der Steinmetzstraße in Berlin-Schöneberg.(Quelle:rbb/J.S.Fischer)Holes (2016) Alvenslebenstraße 22, Schöneberg

Was zu sehen ist: Auf eine Backsteinfassade hat der Hamburger Künstler 1010 (gesprochen: tenten) Löcher „Holes“ (2016) gemalt. Der deutsch-polnische Street Artist ist bekannt für eben jenen grafischen Style und hat in dieser Art Wände in vielen verschiedenen Städten gestaltet. Die Version im Steinmetzkiez vertieft sich trichterförmig nach unten. Farblich bewegen sich die Löcher in pastellfarbenen Abstufungen zwischen Gelb und einem dunklen Grünblau. Sie sind über die gesamte Backsteinfassade verteilt.

Wie es wirkt: Laut Urban Nation entsteht „Illusion von Tiefe und Dimension“. Dadurch, dass die Löcher teilweise an den Kanten der hervorstehenden Bauteile aufgemalt sind, stellt sich der Trompe-L’Oueil-Effekt nicht ein: Die „Portale“ (Urban Nation) bleiben flach und enthüllen nicht, was sich möglicherweise im Inneren der Fassade befinden könnte. Sie sehen wie dekorative Elemente aus, deren Zweck unklar erscheint.


Sexarbeit eingetütet

Das Mural ""Speak Up. Stand Up" von Christian Böhmer in der Bülowstraße in Berlin-Schöneberg.(Quelle:rbb/J.S.Fischer)Speak Up. Stand Up (2017), Bülowstr. 32, Schöneberg

Was zu sehen ist: Weiter geht es mit einer figürlichen Darstellung des Kölner Street Artists Christian Böhmer. Dieser ist auch bekannt als „Mr. Trash“, weil er Menschen ausschließlich mit aufgesetzten Mülltüten darstellt. Auch „Speak Up. Stand Up“ zeigt eine nackte Frau von der Seite, deren gesamter Kopf und Hals von einer stark zerknitterten Papiertüte bedeckt ist. Vor ihrer Brust verschränkt sie die Arme, ihre Hände sind rot angemalt. Mit einem Zeigefinger vor ihren Lippen fordert sie ihr imaginäres Gegenüber zum Schweigen auf.

Wie es wirkt: Diese Geste soll laut Künstler auf die gesellschaftliche Sprachlosigkeit, die die Gewalt gegen Sexarbeiterinnen im Kiez ignoriert, hinweisen. Gleichzeitig lenkt Böhmer selbst durch die Anonymisierung der Dargestellten den Blick auf ihren nackten Körper und reproduziert sie als sexualisiertes und schwaches Objekt. Widersprüchlich wirken die blutigen Hände, die Gewalt und Schuld der Frau zuzuschreiben scheinen.


Politische Anti-Werbung

Das Mural NO Future für Apathie! Ignoranz! Sexismus! Fremdenfeindlichkeit! Rassismus! von Obey in der Schwerinstraße in Berlin-Schöneberg.(Quelle:rbb/J.S.Fischer)NO Future für Apathie! Ignoranz! Sexismus! Fremdenfeindlichkeit! Rassismus (2017), Froben-/Ecke Schwerinstraße, Schöneberg

Was zu sehen ist: Dieser Street Artist könnte vielen durch seine „Hope“- Grafik für den Wahlkampf 2008 des ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama bekannt sein: Shepard Fairey, besser bekannt als „Obey“. Dieser Star der Szene hat eine Hauswand mit einer typografischen Illustration in Schwarz-Weiß-Rot gestaltet: Ein „No Future“-Schriftzug erinnert an Coca-Cola-Werbung. Darunter ist ein Zeitungsleser in einer Holzschnitt-ähnelnden Darstellung zu sehen. Die Betrachtenden stehen hinter ihm und können teilweise im „Extra Manifest“ mitlesen. Aus seiner Gesichtshälfte schält sich sein blanker Totenschädel heraus. Unter dem Bild wird der Slogan mit „Für Apathie! Ignoranz! Sexismus! Fremdenfeindlichkeit! Rassismus!“ ergänzt.

  • Archivbild: Der Bär als Wappen der Stadt Berlin steht an der Autobahn in Höhe Dreilinden buw. Ausfahrt Zehlendorf, aufgenommen am 21.03.2012 in Berlin. (Quelle: dpa/Soeren Stache)

    dpa/Soeren Stache

    Kunst-Tiere im öffentlichen Raum –
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    Wer sich in den Dschungel Berlins begibt, begegnet außerhalb der Zoos selten Bisons, Bären oder Pferden. Aber es gibt sie im öffentlichen Raum. Wer sich durch die Stadt bewegt und die Augen offenhält, kann sie entdecken. Von Julia Sie-Yong Fischer

Wie es wirkt: Ästhetisch lehnt sich diese Darstellung an Werbung und politische Manifeste an. Es werden starke Begriffe mit Ausrufezeichen verwendet, die aber eher pessimistisch als weltoffen verstanden werden sollen. Unklar ist die Identität des Zeitungslesers, an den sich die Aufforderung stellvertretend wendet. Sind wir als Gesellschaft schon an einem Nullpunkt angekommen? Oder handelt es sich um einen noch optimistischen Appell? Auffällig wirkt dabei auch der sprachliche Bruch: Während der obere Teil auf Englisch verfasst ist, wechselt Obey bei der unteren Message ins Deutsche.


Von der einseitigen Liebe

Das Mural "Apollo und Daphne des Duos Francisco Bosoletti und Young Jarus in der Skalitzer Straße in Berlin-Kreuzberg.(Quelle:rbb/J.S.Fischer)Apollo und Daphne (2018), Ort: Skalitzer Straße / Ecke Wassertorstraße, Kreuzberg

Was zu sehen ist: Ein klassisches Motiv der Kunstgeschichte stellt die mythologische Geschichte von „Apollo und Daphne“ dar. Als sich der Gott Apollo durch einen goldenen Pfeil des Liebesgotts Eros in die Nymphe Daphne schockverliebt, wird diese von einem bleiernen Pfeil Eros in einen Zustand der Abneigung versetzt. Um sich vor Apollos aufdringlichen Vergewaltigungsversuchen zu schützen, bittet sie ihren Vater Peneios um Hilfe. Der Flussgott weiß sich nicht anders zu helfen, als sie in einen Lorbeerbaum zu verwandeln. Das argentinisch-kanadische Duo Francisco Bosoletti und der Kanadier Young Jarus haben Daphnes Transformationsmoment in eine fotorealistische, schwarz-weiße Farbumkehrung überführt.

Wie es wirkt: Die Künstler nutzen das Motiv als Symbol für unerreichte Liebe. Dabei schaut Apollo Daphne schwärmerisch von rechts unten an, während sich diese von ihm abwendet. Insofern ist bildlich klar, aus wessen Perspektive eine romantische Verklärung stattfindet. Die ästhetische Darstellung klammert den Aspekt der sexualisierten Gewalt aus und läuft Gefahr, diese zu verharmlosen. Denn de facto geht es bei der Szene aus heutiger Perspektive eher um eine einseitige Projektion, die durch die Häufigkeit von Femiziden zu hinterfragen ist.


Obst und Umwelt

Das Mural "Apfel der Sünde" des Duos Onur und Wes21 in der Prinzenstraße in Berlin-Kreuzberg.(Quelle:rbb/J.S.Fischer)Apfel der Sünde (2015) Prinzenstr.19, Kreuzberg

Was zu sehen ist: Aus einem gesunden, rot-glänzenden Apfel platzen explosiv kleine Teile heraus. Bis auf das Kerngehäuse ist er bereits freigelegt, die einzelnen zerfurchten Umrisse gleichen Kontinenten einer Weltkarte. Auf einem Fragment sitzt ein Wesen, das an eine Raupe und einen Dinosaurier erinnert, eine Fliege ruht auf einem Blatt. Die Gestaltung der Street Artists Onur und Wes21 ist fotorealistisch, teilweise lösen sich die Formen illustrativ und skizzenhaft auf. Das Bild bekommt durch die umherfliegenden Stückchen, die sich auch über andere Flächen erstrecken, eine Dynamik.

Wie es wirkt: Der Titel dieser Wandmalerei („Apfel der Sünde“) weist auf die christliche Paradiesszene hin, dabei ist insbesondere die menschengemachte Umweltzerstörung dem Schweizer Duo ein Anliegen. Die Farbgestaltung und die Grafik an sich wirken dagegen nicht unbedingt pessimistisch. Die Zersetzung der Frucht ist schmackhaft präsentiert.

Beitrag von Julia Sie-Yong Fischer