Interview

Standdatum: 24. August 2025.

Autorinnen und Autoren:
Emmy Thume

Ein kleiner Junge wird von seinem Vater geschlagen (Symbolbild)

Häufig sind die Täter sexualisierter Gewalt Menschen aus dem direkten familiären Umfeld, also Vertrauenspersonen der Opfer.

Bild: Imago | Photothek

Immer mehr Fälle sexuellen Missbrauchs an Kindern werden gemeldet – auch im Land Bremen. Kinderpsychotherapeut Lars White erklärt, worauf Eltern achten sollten.

Die Tatzahlen von sexuellem Missbrauch an Kindern haben sich in Bremen seit 2015 nahezu verdoppelt. Auch in Bremerhaven sind die Fälle in den letzten Jahren gestiegen, wie die polizeiliche Kriminalstatistik zeigt. Die gestiegenen Zahlen der registrierten Fälle seien dabei laut Polizei auf eine „erfreuliche Sensibilisierung der Bevölkerung“ zurückzuführen, die seltener wegschaue und häufiger Anzeige erstatte. Die Aufklärungsquote liege in diesem Deliktbereich bei fast 75 Prozent.

Das macht die Fälle aber nicht weniger alarmierend. Die Polizei reagiert unter anderem mit Präventionsprojekten an Schulen. Der Opferschutzverein Weißer Ring verteilt sensibilisierende Kinderbücher in Kitas in Bremen Nord. buten un binnen hat mit dem Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten Professor Lars White darüber gesprochen, was Eltern für ihre Kinder tun können.

Herr White, warum ist es so wichtig, schon die kleinsten Kinder für sexuelle Gewalt zu sensibilisieren?

Weil junge Kinder besonders vulnerabel, also verletzlich, sind. Das liegt einerseits an der Sprachbarriere, die mit jungen Kindern logischerweise die Kommunikation erschwert. Außerdem spielt Gefügigkeit eine Rolle. Im jungen Alter sind Kinder nämlich nochmal abhängiger von ihren Bezugspersonen. Da besteht dann die Möglichkeit, dass diese Abhängigkeit eine größere Gefügigkeit zur Folge hat, die seitens Erwachsener ausgenutzt werden kann. Dies gilt insbesondere im häufigen Fall, dass Eltern bzw. Familienmitglieder selbst an der sexuellen Gewalt beteiligt sind. Sensibilisierung ist auch deshalb wichtig, weil die meisten Eltern hierzulande früher oder später ihr Kind in Fremdbetreuung geben und deshalb Vertrauen in diese aufbauen müssen.

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Lars White

Prof. Dr. Lars White schaut in die Kamera.

Bild: Universität Bremen | Annemarie Popp

Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut Prof. Dr. Lars White leitet seit 2024 das Team für die Klinische Psychologie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Universität Bremen, Fachbereich Gesundheitswissenschaften, Studiengang Psychologie.

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Wie spreche ich solche harten Themen an, wenn ich mit meinem Kind als Elternteil darüber reden will?

Wichtig ist erstmal, sich dafür ausreichend Zeit zu nehmen. Dann ist es wichtig, Gefahren wie Missbrauch direkt anzusprechen. Ich glaube, da bringt es wenig, Themen zu umschiffen. Gleichzeitig hilft es, wenn man natürlich auch beruhigend ist. Man sollte es nicht total dramatisieren und in verängstigende Details schlimmer Fälle verfallen, aber dem Kind schon aufzeigen, dass es die Gefahr gibt und es deswegen wichtig ist, sich an Regeln zu halten oder sensibel zu sein.

Dabei sollte man versuchen, in einer kind- und altersgerechten Sprache zu sprechen, in der das Kind den Ernst der Situation begreift, aber nicht komplett verunsichert wird.

Lars White, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut

Zum Beispiel könnte man auf einer Kirmes sagen: „Wenn du hier von mir wegläufst, habe ich keine Ahnung, wer auf dich zukommt.“
Es ist auch hilfreich, das an konkreten Beispielen zu besprechen. Zum Beispiel mit Kinderbüchern oder Fernsehsendungen, die solche Gefahren aufgreifen. Dabei ist wichtig, dass man das gemeinsam guckt und auch gemeinsam darüber spricht, wie das Kind sich in solchen Situationen verhalten sollte, oder auch, wie sich solche Situationen vielleicht verhindern lassen.

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Wer sind die Täter?

Häufig sind die Täter sexualisierter Gewalt Menschen aus dem direkten familiären Umfeld, also Vertrauenspersonen der Opfer. Die Täter sind dabei gleichzeitig Quelle der Sicherheit und Fürsorge sowie der Bedrohung. Das ist für betroffene Kinder laut Lars White, gerade im jungen Alter, ein hochproblematischer Konflikt und stellt auch für die Präventionsarbeit eine Schwierigkeit dar.

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Schürt das nicht auch Ängste?

Sein Kind übermäßig zu behüten und ihm viel Angst mit auf den Weg geben, ist für die Entwicklung grundsätzlich nicht günstig. Man kann nicht alles verhindern. So furchtbar es auch klingt, dazu sind wir nicht in der Lage. Und ich glaube, in dem Versuch, das Kind zu schützen, dürfen wir auch nicht überkompensieren. Auf der anderen Seite muss man versuchen, Kinder für verschiedene Situationen zu sensibilisieren. Man muss versuchen, dem Kind zu vermitteln, wo die eigenen körperlichen Grenzen sind, und dass die auf keinen Fall und von niemandem überschritten werden dürfen. Zugleich gilt es, das Kind zu ermutigen, klar und deutlich „Nein“ zu sagen, sich lautstark bemerkbar zu machen und sich möglichst bald an Vertrauenspersonen zu wenden, falls doch etwas passieren sollte, auch wenn man sich dafür im ersten Moment noch so sehr schämt. So etwas kann und sollte man dem Kind natürlich sagen.

Gleichzeitig gilt natürlich auch, dass man sensibel vermitteln sollte, dass es nie die Schuld des Kindes ist, falls es zu einem solchen Vorfall kommt oder gekommen ist.

Lars White, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut

Wie erkenne ich, dass mein Kind möglicherweise etwas erlebt hat, das es nicht in Worte fassen kann?

Das ist schwierig, denn in der Regel sind die Zeichen meiner Erfahrung nach sehr unspezifisch. Problematisches oder sexualisiertes Verhalten von Kindern kann eine Vielzahl von Hintergründen haben. Man muss im Einzelfall schauen, wie sich ein Kind verhält. Ich würde davor warnen, zu sagen, dass ein Kind zwingend Missbrauch erlebt hat, weil es ein bestimmtes Verhalten an den Tag legt.
Es gibt aber Indikatoren, wie etwa ein deutlich verändertes Verhalten. Dass ein Kind etwa plötzlich eine heftige sexualisierte Sprache verwendet, die vorher nicht da war. Oder dass plötzlich irgendwelche Sexualakte eingefordert oder nachgespielt werden, oder wenn das Kind auf einmal von pornografischen Szene erzählt und dafür noch viel zu jung ist. Dann sollte man dem logischerweise nachgehen und sich fragen, woher das kommt. Ich würde aber davon abraten, zu schnell zu dem Schluss zu springen, dass zwingend sexueller Missbrauch dahintersteckt. In der heutigen Welt können Kinder in den Medien und anderswo mit diesen Inhalten in Kontakt kommen.

Als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut sehe ich an der Stelle häufig die überbesorgten Eltern, die davon ausgehen, dass etwas passiert sein muss, weil das Kind ein bestimmtes Verhalten zeigt. Die Situation vorschnell zu bewerten ist aber hochproblematisch, da jüngere Kinder mitunter die komplexesten Fälle sind.

Davon abgesehen ist aber trotzdem sehr wichtig, die Aussagen des Kindes ernst zu nehmen und ihm zuzuhören und nicht einfach als kindliche Fantasien abzutun.

Lars White, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut

Information zum Thema
Anlauf- und Beratungsstellen bei sexueller Gewalt an Kindern

  • Kinder- und Jugendschutztelefon: Tel.: 6 99 11 33, mehr Infos hier..
  • Beratungsstelle Kinderschutz-Zentrum Bremen: Tel.: 0421 240 112 20, Mail: ksz@dksb-bremen.de, mehr Infos hier..
  • Telefonseelsorge der Bremischen Evangelischen Kirche: Tel.: 0800 111 011 1 und 0800 111 022 2, auch per Mail oder Chat. Mehr Infos hier..

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Dieses Thema im Programm:
buten un binnen, 20. Juli 2025, 19:30 Uhr