Es ist Nachmittag, als wir nach 26 Stunden Fahrt endlich in Kyjiv ankommen. Der Krieg ist da, noch ehe wir die Koffer auspacken können. Kaum öffnen wir die Zimmertür, heult der erste Luftalarm. Sirenen, eine Stimme aus den Lautsprechern. Willkommen in einer Realität, die hier seit drei Jahren den Alltag bestimmt. Wir sind die erste Leipziger Bürgerdelegation in Kyjiv. Eingeladen von Journalistinnen, Museumsdirektorinnen, Frauenaktivistinnen, Kommunalpolitikerinnen, organisiert von der Stiftung Friedliche Revolution, unterstützt von der Stadt Leipzig.
Wir sind gekommen, um zu verstehen. Um zu hören, wie es ist, in einem Land zu leben, das Tag für Tag angegriffen wird. Und um herauszufinden, was Städtepartnerschaft in Kriegszeiten bedeuten kann.
Euromaidan: Jeder Tropfen zählt
Zuerst treffen wir Jana Salachowa, Leiterin des Forum Theaters. Ihre Augen leuchten, und sie spricht vom Euromaidan, jener Zeit, als das Land vor Verzweiflung bebte und auf Hoffnung setzte. Sie sagt: „Jeder von uns war nur ein Tropfen. Aber, tausend Tropfen können etwas bewegen.“
Sie beschreibt, wie vor etwa zwei Wochen ein umstrittenes Anti-Korruptionsgesetz gestoppt wurde. Dank der Proteste, vor allem von vielen jungen Leuten, die für unabhängige Institutionen wie NABU (Anti-Korruptionsbüro) und SAPO einstanden. Am 31. Juli wurde deren Autonomie durch ein neues Gesetz wiederhergestellt.
Auf dem Euromaidan. Foto: Susanne Tenzler-Heusler
In Salachowas Stimme klingt das nach echter Zuversicht: Veränderung beginnt im Vertrauen und im Engagement und das ist selbst mitten im Krieg lebendig.
Glaube, Weisheit & Zukunft
Später, in der ehrwürdigen Sophienkathedrale, begegnen wir Priester Jury Kovalenko – besonnen, ruhig, wie ein Fels inmitten der Kriegshektik. Er spricht von Glauben, aber nicht als Floskel, sondern als geistige Kraft: „Wir brauchen nicht nur Waffen. Wir brauchen Glauben, Weitsicht, Weisheit. Nur so können wir bestehen.“
Die Sophienkathedrale selbst ist mehr als nur ein Kirchenbau. Erbaut im 11. Jahrhundert, heute UNESCO-Weltkulturerbe, bewahrt sie Fresken, Mosaike, Ikonen – Jahrhunderte ukrainischer Geschichte. Die Mauern erzählen von der Kiewer Rus, von Fürsten und Mönchen, von Belagerungen und Befreiungen.
Wir stehen in der Mitte des gewaltigen Kirchenschiffs. Kovalenko legt die Hand an eine Säule, während er spricht. Er ist Rektor der Open Orthodox University St. Sophia the Wisdom und Priester der Orthodoxen Kirche der Ukraine (OCU). Er engagiert sich für interreligiösen Dialog und theologische Offenheit – eine Haltung, die gerade in Kriegszeiten von besonderer Bedeutung ist.
An der Sophienkathedrale. Foto: Susanne Tenzler-Heusler
Im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg äußert er sich auch kritisch gegenüber der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats (UOC-MP). Er weist darauf hin, dass rund hundert neue UOC-MP-Gemeinden im Ausland gegründet wurden, und mahnt zu einer fundierten spirituellen wie sicherheitspolitischen Auseinandersetzung mit diesem Netzwerk.
Für ihn ist das Moskauer Patriarchat längst nicht mehr nur eine religiöse Institution, sondern ein Akteur, der ideologische Funktionen erfüllt und russische Interessen stützt.
Gedenken an die Gefallenen des Krieges. Foto: Susanne Tenzler-Heusler
Realpolitik mit Herz
Am Abend lernen wir Victoria Kononenko kennen, die bald als Generalkonsulin in Dresden arbeiten wird. „Ich freue mich auf die Aufgabe“, erklärt sie. „Aber es liegt so viel Arbeit vor uns: für unsere Landsleute in Deutschland. Vor allem aber, um Verständnis zu schaffen. Ohne Verständnis gibt es keine Zukunft.“
In diesem Moment planen wir bereits gemeinsam, wie wir Netzwerke aufbauen können, von kultureller Vermittlung bis zu Bildungsformaten. Hier beginnt Politik im Zwischenmenschlichen.
Nachtklang unter dem Maidan
Wir sind müde. Wirklich geschlafen hat keiner von uns. Auf dem Rückweg, unter dem Maidan, bleiben wir plötzlich stehen: Ein Streichquartett spielt klassische Musik. Ein paar Menschen bleiben stehen, lauschen, wiegen sich im Takt. Es ist einer dieser Momente, in denen alles zugleich da ist: der Krieg, die Angst, die Müdigkeit und das Leben, das sich nicht vertreiben lässt.
Teil II lesen Sie morgen früh.