Es ist ein verwunschener Ort, anders lässt sich das gar nicht sagen. Nicht gerade einladend vielleicht, und doch ist es ein Haus wie aus einem Märchen. So wirkt es mit dem ein wenig nachlässig gepflegten Garten, den Heckenrosen und der hübsch bemoosten Einfriedung. Mit seinen Fachwerkelementen, dem Bruchstein und den Klinkern, den Erkern und dem kleinen Türmchen. Mit seinen kunstvoll schmiedeeisernen, vom Bauherrn selbst entworfenen Gittern vor den kleinen Fenstern und einem steil aufragenden Dach, als wolle die Villa von der Außenwelt von nun an nichts mehr wissen.
Und womöglich war genau das auch seinerzeit die Intention, als Anton Kilian Gentil (1867-1951) das heute als „Gentilhaus“ bekannte Gebäude an der Grünewaldstraße 1922 eigens für seine schon damals bemerkenswerte Kunstsammlung entwarf: der Rückzug ins Private. Immerhin war das Haus in der Lindenallee gleich gegenüber – das erste Haus, das Gentil in Aschaffenburg für seine Familie baute, dem in den Dreißigerjahren noch die „Gentilburg“ folgen sollte – hinsichtlich der Architektur noch ungleich offener. Von den großzügigen Loggien und Balkonen aber, den zarten Art-Déco-Elementen und den vergleichsweise großen Fensterfronten ist hier, im Gentilhaus, kaum etwas geblieben. Dabei kündigte sich die architektonische Moderne längst schon an.
Die Zeit scheint stehengeblieben
Doch andererseits war auch der an englische wie altdeutsche Landhaustraditionen anknüpfende Stil seinerzeit durchaus schwer in Mode. Und er setzt sich auch im Innern des Hauses fort. „Ich bedauere, dass es hier nicht spukt“, sagt Thomas Schauerte, als er uns zu einer exklusiven Führung herein bittet. Und wiewohl er dabei lächelt, versteht man doch sofort, was er uns damit sagen will. Sind doch nicht allein die alten Uhren stehen geblieben – es ist es vielmehr die Zeit selbst, die hier stehengeblieben scheint. Dafür freilich hat Gentil schon früh gesorgt. Und das „Gesamtkunstwerk“, von dem Schauerte als Direktor der Museen der Stadt Aschaffenburg nun an der Schwelle spricht, testamentarisch mitsamt der rund 2000 Objekte umfassenden Sammlung seiner Geburtsstadt vermacht.
Kunst und Nippes im Halbdunkel
Draußen an der eisernen Tür steht mit der Hand geschrieben noch Gentils Name auf dem Klingelschild. Derweil gelangt man nun vom Vestibül unmittelbar in die Wohnküche – und muss sich an die „ägyptische Finsternis“, wie Schauerte sagt, erst einmal gewöhnen. Was nicht nur den winzigen Fensteröffnungen geschuldet ist, den dunklen Dielen und den schweren, teilweise von Gentil selbst entworfenen und mit Schnitzereien ausgestatteten Möbeln, auch den Nischen, Stufen und auf jeder Etage eingebauten düsteren Alkoven und keineswegs zuletzt den Bildern und Grafiken, den Plastiken, Altären und Skulpturen. All dem Nippes aber auch, den historischen Bierkrügen, Kerzenständern, Kitschfiguren, die man ohne eigens mitgebrachte Leuchte in dem Halbdunkel mitunter kaum erkennen kann.
Diesen Künstler verehrte er geradezu: Von Franz von Stuck erwarb Gentil diese prächtige Fassung der „Medusa“.Maximilian von Lachner
Es sind die kunstvollen, von Gentil selbst für das ganze Haus gestalteten Lampen, die zwar mit ihren Ornamenten zauberhafte Schattenbilder an die Wände werfen, doch nur wenig Licht. Was selbst für den zentralen Raum des Hauses, die zweigeschossige, von einer umlaufenden Galerie gekrönte Halle gilt. Das könnte zumindest ein Grund sein dafür, dass das Künstlerhaus zwar bei den meisten Besuchern – und selbst bei den Jüngeren – immer wieder für Begeisterung sorgt. „Die finden es toll!“, sagt Schauerte, sei doch ein solches, an die Kunst- und Wunderkammern der frühen Neuzeit anschließendes Museum „für Kinder fast wie Hogwarts.“
Mit Franz von Stuck bekannt
Aber es dürfte neben der Enge, den schmalen Treppen und der fehlenden Zentralheizung wenigstens auch mitverantwortlich sein dafür, dass das Gebäude nur im Sommerhalbjahr und auch nur für kleine Gruppen zugänglich und mithin bis heute ein „ewiger Geheimtipp“, so Schauerte, geblieben ist. Dabei war „Pumpen-Anton“, wie der gelernte, mit dem Bau von Spezialpumpen zu Wohlstand gelangte Glaser, Schlosser und Gießer in seiner Heimatstadt bis heute heißt, keineswegs allein für seine außergewöhnlichen Bauten in ganz Aschaffenburg bekannt. Ein Original, das mit seinem offenen Sportwagen durch die Stadt fuhr, gepflegte Herrenabende veranstaltete und mit zahlreichen Künstlern des Münchner Kreises bekannt war.
Bringt Licht ins „ägyptische Dunkel“: Museumsdirektor Thomas SchauerteMaximilian von Lachner
Franz von Stuck, von dem er nicht nur eine prächtige Fassung der „Medusa“ erwarb, sondern bei dem er 1905 auch eine ihr nun gleich gegenüber hängende „Bacchantin“ in Auftrag gab, verehrte er geradezu. Mit Ludwig Eberle, der mit zahlreichen Holzreliefs und Trägerfiguren im Haus vertreten ist, war er ebenso befreundet wie mit dem Frankfurter Fritz Boehle, dessen Selbstporträt gleich unten in der Halle hängt. Und immer wieder auch ließ sich Gentil selbst von seinen zahlreichen Freunden porträtieren. Ein, zwei Dutzend Porträts in Öl und in Bronze gibt es auf den vier Etagen der Villa zu entdecken. Bescheidene, gediegene, gelungene auch, von denen das vielleicht kurioseste die Totenmaske ist, die ihm sein Sohn Otto, in München zum Bildhauer ausgebildet, abgenommen hat.
Sodass man nun klammheimlich ins Grübeln kommen mag, ob es nicht womöglich doch, und sei es zu gewissen, allenfalls von einem schmalen Mond beschienenen Stunden, spukt in diesem Geisterhaus. Hat doch Anton Gentil verfügt, dass gerade hier, hinter der bronzenen Gedenktafel, die Urne mit seiner Asche in der Wand versenkt werde. Und so ist es gekommen. Schon der Name an der Klingel mochte einen merkwürdig berühren. Jetzt weiß man: Tatsächlich hat Anton Gentil sein Haus bis heute nicht verlassen. Und doch ist es nicht der leise Schauder, der den Besucher Stockwerk um Stockwerk erkunden und ungleich länger als gedacht verweilen lässt. Sondern dass man „in jeder Ritze etwas entdecken kann.“ Was selbst für Schauerte zu gelten scheint.
Es gibt noch Schätze zu entdecken
Wenn er sich hier über eine Grafik beugt, dort ein friesartig den Raum fassendes Relief anleuchtet oder sich hinunter zu den Walzen für die eingebaute Orgel beugt, die für Gentil je nach Stimmung Händel, Mendelssohns „Lieder ohne Worte“ oder Beethovens „Prometheus“-Ouvertüre spielte, dann kann es daran denn auch keinen Zweifel geben. Folgt man Schauerte, ist trotz einer nun bald 40 Jahre alten Publikation der Stadt zum Gentilhaus „bei weitem nicht alles erfasst und beschrieben.“ Sodass man die eine oder andere Grafik womöglich vergessen hat. Und man einmal sehen kann, so der Museumsleiter, „was auch mit einem guten Holzschnitt passiert, wenn er Jahrzehnte an der Wand hängt.“ Und also nicht geschützt in einer Mappe aufbewahrt wird.
Verwunschenes Anwesen: das Gentilhaus in Aschaffenburg neben viel Grün und HeckenrosenMaximilian von Lachner
Weshalb das eine oder andere besonders kostbare Stück der Sammlung wie ein vermutlich aus dem Kloster Lorsch stammendes romanisches Kruzifix oder das um 1530 entstandene, Lucas Cranach und seiner Werkstatt zugeschriebene Gemälde „Herkules bei Omphale“ heute nicht mehr hier, sondern im Stiftsmuseum aufbewahrt werden. Schätze aber finden sich doch allenthalben in diesem In- und Über- und Nebeneinander von Grafik, Malerei und Asiatika, von Kunsthandwerk und Handwerkskunst, von Plastik, Skulptur und Kuriositäten. Sodass man Druckgrafiken von Albrecht Dürer, Barthel Beham und Hans Baldung Grien ebenso entdecken kann wie Sinn- und Trinksprüche, und eine anrührende Salzburger „Muttergottes auf der Mondsichel“ geradeso wie eine Skizze à la „El Greco, dritter Aufguss“, wie Schauerte erbarmungslos befindet.
Gentil, so zeigt der Besuch in seinem von Anfang an in erster Linie für die Präsentation seiner Sammlung vorgesehenen Haus, zielte beim Aufbau der Kollektion nicht auf die Rendite. Er sammelte schlicht, was ihm gefiel. Und auch wenn er sich – wie bei dem „dritten Aufguss“ des El Greco oder dem, wie Gentil noch selbst meinte, „Hausaltar aus der Zeit des Hugo van Goes“ – womöglich hier und da über den Tisch ziehen ließ, finden sich nicht nur in der sogenannten Kapelle mit dem fränkischen Flügelaltar und insbesondere unter den gotischen und spätgotischen Skulpturen herausragende Stücke oft unbekannt gebliebener Meister.
„Hier ist wirklich jeder Quadratzentimeter gestaltet“, zeigt sich Schauerte auch nach sechs Jahren noch fasziniert, die er nun für die Aschaffenburger Museen verantwortlich ist. Mag sein, die ägyptische Finsternis, die mittelalterliche Enge und die Überfülle der von Gentil mitunter allenfalls so halbwegs glücklich platzierten Exponate können den Besucher schon mal überfordern. Aber wir wollen ja nicht einziehen in dieses verwunschene, aus aller Zeit gefallene Gemäuer. Wir sind gekommen, um den Geschichten dieses Hauses zuzuhören, uns zu wundern vielleicht auch zu staunen. Und das darf man hier auf Schritt und Tritt.
Gentilhaus Grünewaldstraße 20, Aschaffenburg, geöffnet bis Oktober. Eine Anmeldung über das Führungsnetz Aschaffenburg unter der Telefonnummer 06021/3868866 oder per Mail ist erforderlich. Weitere Informationen unter museen-aschaffenburg.de.