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Der US-amerikanische Autor Percival EverettPercival Everett. © HENRY NICHOLLS/afp

Percival Everett denkt anspruchsvoll und unterhaltsam über nichts nach in seinem Roman „Dr. No“.

Schon in Percival Everetts Vorgängerroman „The Trees“ („Die Bäume“, Hanser, 2023) ging es ohne viel Federlesens um Rache, genauer gesagt um afroamerikanische Rache. Sie wurde spät und eiskalt genommen an (fiktiven) Nachfahren derjenigen, die in den 50er Jahren im Süden der USA Lynchmorde begangen, und Carolyn Bryants (1924-2023), die den jungen Emmett Till im Sommer 1955 beschuldigt hatte, sie belästigt zu haben. Der Teenager wurde daraufhin ermordet.

Es handelt sich im blutig-absurden „Die Bäume“ um gezielte Rache – auch wenn die beiden Ermittler erst mal aufs Prinzip kommen müssen, auf die Bekannt- und Verwandtschaft der Opfer –, um Rache, die Rassisten trifft. Das ist anders in „Dr. No“, ebenfalls ein satirischer Genreroman, in dem nichts (!, siehe unten) oder jedenfalls sehr wenig die Geschichte in der Realität verankert. Und mehr als um Rache geht es um Vernichtung. „Dr. No“ erschien im englischen Original 2022, vor Everetts vielgelobter, im vergangenen Jahr auf der Shortlist des Booker stehender „Huckleberry Finn“-Variation „James“. Gerade erscheint der Roman auf Deutsch.

„Und nichts wird das ändern“

Der erste Teil des Buches ist „Existenzquantor“ überschrieben, laut Internet ist der „Existenzquantor (…) ein logisches Symbol, das in der Prädikatenlogik verwendet wird, um auszudrücken, dass es mindestens ein Objekt gibt, das eine bestimmte Eigenschaft oder Bedingung erfüllt.“ Ach je, denkt da die mathematisch schon immer herausgeforderte Leserin. Zwar wird es noch schlimmer kommen – Everett ist mathematisch offenbar ganz und gar nicht herausgefordert –, aber „Dr. No“ ist trotzdem auch ein unterhaltsam mit Thrillerklischees im Allgemeinen und Bond-Film-Klischees im Besonderen spielender Roman.

John Milton Bradley Sill, die eine Hauptfigur, ist ein afroamerikanischer Milliardär mit allem, was man heutzutage als Milliardär so braucht: Yacht, Unterseeboot, Privatflugzeug, Privatarmee, abgelegenes Riesenanwesen, Diener, sexy Chauffeuse (für, je nach Bedarf, Yacht, Unterseeboot, Flugzeug). Sill ist freilich alles andere als zufrieden mit dem, was er – beziehungsweise seine von einem Polizisten dann angeblich „in Notwehr“ erschossene Mutter mit ihrem „typisch amerikanischen Unternehmergeist“ – erreicht hat. „Amerika hat meinen Vater umgebracht. Ich bin ein Abwracker. Amerika hat meinen Vater und meine Mutter umgebracht. Und nichts wird das ändern.“

So begründet Sill dem Mathematikprofessor (und Erzähler des Romans) Wala Kitu gegenüber, warum er ihn angeheuert hat – das entscheidende Wort ist „nichts“ (oder auch „Nichts“). Wala Kitu heißt zwar eigentlich Ralph Townsend, aber er denkt vor allem über das Nichts nach.

Das Buch

Percival Everett: Dr. No. Roman. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser, München 2025. 320 S., 26 Euro.

Niemand, glaubt Sill also zu Recht, weiß so viel über nichts wie Kitu, das sagt doch schon der Name: „Wala ist Tagalog für nichts (…) Kitu ist Swahili für nichts (…) Ich studiere nichts.“ Dieses nichts/Nichts, glaubt Sill außerdem, befindet sich in Ford Knox – dagegen glaubt er nicht, dass es dort Gold gibt – und wer es besitzt, kann damit Teile der Welt einfach auslöschen. Genau das möchte der Milliardär mit den USA machen: „Er will, dass diesem Land nichts zustößt“, so ein General zu Wala Kitu, nämlich das zerstörerische Nichts. Einerseits aus Rache, andererseits, weil er einfach ein „Bond-Schurke“ sein und „Böses um des Bösen willen“ tun möchte.

Erzähler Wala Kitu wird also für drei Millionen Dollar angeheuert, weil er nichts studiert und obwohl er beteuert: „Ich arbeite sehr hart und wünschte, ich könnte sagen, dass ich nichts dafür vorzuweisen habe“. Hat er nicht, doch er widmet sich der verzwickten Frage, wo „das Zeug“ für den Urknall hergekommen ist: „Und wohinein, wohindurch und woraufhin expandiert das Universum eigentlich? Es ist entweder nichts oder ein Etwas, das wir nichts nennen, und nicht dieser Dunkle-Materie-Quatsch, an den so viele glauben.“

Dann geht es erst einmal um Wala Kitus einbeinigen (einen dreibeinigen kann schließlich jeder haben!) Hund Trigo, der seinem Herrchen immer in dessen Träumen erscheint, und Kitus junge Kollegin Eigen Vector. Everetts Figuren, das legen schon ihre Namen nahe, sollen keine Menschen aus Fleisch und Blut sein. Es wird freilich auch niemand über Bond-Filme behaupten, dass Glaubwürdigkeit und Realitätsnähe darin eine große Rolle spielen.

„Was sagt der Barmann? Nichts“

„Dr. No“ ist ein Roman, in dem das geistreich (und mathematisch) Überkandidelte gerade gut genug ist. (Ein Kompliment an dieser Stelle an Übersetzer Nikolaus Stingl.) Ein Roman, in dem Hund Trigo in Kitus Träumen Witze erzählt, zum Beispiel jenen: „Nichts kommt in eine Kneipe. Was sagt der Barmann? Nichts. Wie kommt er dazu? Nichts ist hereingekommen“.

Praktisch veranlagt ist Wala Kitu kein bisschen, ein zerstreuter Professor halt. Das macht es ihm trotz Agentenunterstützung (aber leider auch heftiger Agentenkonkurrenz untereinander) nicht leicht, quasi Sills Gegenspieler und damit den Retter der USA, wenn nicht der Welt zu geben. Auch kann er mit Chauffeuse Glorias zwanglosem Angebot, Sex mit ihr zu haben, nicht wirklich etwas anfangen. Von erschreckender Perfektion erscheint sie ihm – und da ist er auf der richtigen, künstlichen Fährte. Dafür empfindet er für Eigen Vector irgendwann ein wenig (!) mehr als nur platonische Freundschaft.

An Quincy, Massachusetts, mit seinen (real) rund 100 000 Einwohnern und Einwohnerinnen, hat Sill das Nichts angeblich schon ausprobiert, so dass es Quincy, Massachusetts, nun nicht mehr gibt. Behauptet der Superschurke. Irgendwie hat es die Stadt jedoch damit nie gegeben, nicht im Internet und auf keiner Karte ist sie zu finden.

Ist da Schlimmes, Ausrotterisches passiert oder nicht? Haben die Menschen in Quincy überhaupt etwas gemerkt? Und sollte selbst dem ganzen großen Land, der USA, „nichts“ zustoßen, was geschieht ihm dann eigentlich?

Percival Everett spielt lustvoll und ausführlich mit solchen Paradoxitäten, treibt sie auf die Spitze, lässt die Leserin, den Leser das Gehirn drumwickeln, ohne dass selbst die ganz Schlauen zu einem Ergebnis kommen können. Das, was an Gesellschaftskritik in diesem Roman zu finden ist, tritt anders als in „The Trees“ und „James“ dagegen weit zurück, auch wenn ein ehemaliger, sehr weißhäutiger Vizepräsident von einem fetten Clown spricht, dem er ständig in den „orangenen Arsch kriechen“ müsste (mit diesem Vize kann nur Mike Pence gemeint sein).

Der Milliardär mit Superschurken-Ehrgeiz und radikalen Rachegelüsten, wäre er eine andere Figur, wenn dieser Roman kürzlich erst entstanden wäre? Oder wäre „Dr. No“ ein ernsterer Roman geworden, weil die Zeiten (noch) ernster sind?