Wie lockt man in dieser von einer unfassbaren Bilderflut geprägten Zeit Menschen in eine Fotoausstellung? Setzt man auf die laute Variante, also auf Blockbuster, die alle kennen und lieben und von denen das Publikum scheinbar nie genug bekommen kann? Oder geht man eher den leisen Weg, wählt feine Gegenüberstellungen aus und versucht, eine unterhaltsame Schule des Sehens zu präsentieren? Vor dieser Frage standen die beiden, für alles Fotografische in der Pinakothek der Moderne in München zuständigen Sammlungsleiterinnen Simone Förster und Franziska Kunze.

Schon der erste Blick am Eingang zur Ausstellung „On View“ ist deshalb ein Statement. Am Ende der großen Freitreppe schreit einen kein großformatiges, farbintensives Bild an. Stattdessen hängt da ein eher kleinteiliges, detailreiches Foto, das genau das zeigt, was die Besucherinnen und Besucher gleich tun werden: In einem Museum eine Ausstellung anschauen. Thomas Struths bekannte Aufnahme aus dem Art Institute in Chicago zeigt also eine Spiegelung der aktuellen Situation. Und die Kuratorinnen machen klar: Hier geht es nicht um Überwältigung, sondern um eine Anleitung zum Sehen, zum Entdecken, im besten Fall zum Weiterdenken.

Beide haben ein riesiges Konvolut fotografischen Materials zur Verfügung. Tausende Werke aus mehr als einem Jahrhundert. Denn seit ihrer Gründung 2002 verfügt die Pinakothek der Moderne über eine Abteilung für Fotografie und – wie es inzwischen heißt – „Zeitbasierte Medien“. In den beiden Jahren darauf kamen die Dauerleihgaben der Firmensammlungen von Siemens und Allianz hinzu mit einem Schwerpunkt auf die Fotografie seit den 1970er-Jahren. 2010 dann die riesige Ergänzung und Erweiterung durch die fotografische Sammlung des Galeristen- und Sammlerehepaars Ann und Jürgen Wilde, deren Schwerpunkt auf der Zeit der Moderne lag, die aber auch die Künstlerarchive von Karl Blossfeldt und Albert Renger-Patzsch besaßen. Dass alles zusammen als Stiftung ausgerechnet Teil der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen ist, klingt kurios, ergab sich aber aus der historischen Konstruktion.

Die Ausstellung zeigt etwa 250 Werke von 66 Künstlerinnen und Künstlern in acht Kapiteln. Das Ganze ist aber luftig gehängt und stets darauf bedacht, Zusammenhänge darzustellen und Themen zu entwickeln. Deshalb hängen da Inkunabeln der Fotografie wie die „Menschen des 20. Jahrhunderts“ von August Sander aus den 1920er-Jahren neben Juan Pablo Echeverris Serie „futuroSEXtraños“, eine der jüngsten, durch den Freundeskreis Pin ermöglichten Neuerwerbungen der Sammlung. So wie Sander vor 100 Jahren die verschiedenen Berufsstände zu typologisieren suchte und diese wie in Stereotypen fotografisch festhielt, nähert sich Echeverris Stereotypen und kulturellen Codes: Da gibt es den Mann im Kapuzenpulli, die gepiercte Punkerin mit Sidecut, das Prinzesschen, den Irokesen oder auch eine Person mit Micky-Maus-Ohren – alles in schwarz-weiß und wie in Scherenschnittanmutung.

An anderer Stelle treffen die Nahaufnahmen von Samenkapseln, die Karl Blossfeldts in den 1930er-Jahren sensationell in Szene gesetzt hat, auf die Detailfotografien eines Spüllappens oder einer Blisterpackung für Tabletten von Claus Goedicke von 2009. Oder das extrem herangezoomte Tischarrangement von Jan Groover von 1979 begegnet dem Stillleben von Florence Henri von 1929.

Vom Detail geht’s in die Weite: Da hängt die berühmte monumentale „Rhein“-Aufnahme von Andreas Gursky mit ihren dreieinhalb Metern Breite nah bei der Industrielandschaft von Albert Renger-Patzsch, dessen Format Ende der 1920er-Jahre gerade mal bei 17 mal 23 Zentimetern lag. Nebenbei wird im Raum mit den Landschaftsaufnahmen, der den Titel „Fragile Welten“ trägt, auch deutlich, wie sehr sich der Naturraum durch den Eingriff des Menschen verändert hat.

Germaine Krulls berühmtes Selbstporträt mit ihrer Icarette von 1925. (Nachlass der Künstlerin, Museum Folkwang Essen / Stiftung Ann und Jürgen Wilde.)Germaine Krulls berühmtes Selbstporträt mit ihrer Icarette von 1925. (Nachlass der Künstlerin, Museum Folkwang Essen / Stiftung Ann und Jürgen Wilde.) (Foto: Repro: Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Sibylle Forster)

Auch wo es um das Körperliche geht, setzen die Kuratorinnen nicht auf den knalligen Effekt, das übersexualisierte Reißerische, sondern zeigen, mit welcher Vielfalt sich Fotografinnen und Fotografen über die Jahrzehnte hinweg dem menschlichen Körper genähert haben. Sehr schön das Spiel mit der Kamera in der Kombination des bekannten Selbstporträts von Germaine Krull von 1925 mit der „Drop Scene“ von Paul Mpagi Sepuya von 2018 und dem „pinch“ aus dem Jahr 2024 des erst 1998 geborenen Fotografen Ludwig Dressler – auch letzteres eine der jüngsten Neuerwerbungen mithilfe von Pin.

Paul Mpagi Sepuya: Drop Scene (0X5A0936) von 2018.Paul Mpagi Sepuya: Drop Scene (0X5A0936) von 2018. (Foto: Natalia Tsoukala, Courtesy the artist und Galerie Peter Kilchmann, Zürich/Paris)

Natürlich darf in einer Ausstellung über Fotografie die sogenannte „Street Photography“ nicht fehlen. Und hier können die Sammlungsleiterinnen aus dem Vollen schöpfen und spannen den Bogen über gut 100 Jahre Fotogeschichte. Von Friedrich Seidenstückers „Pfützenspringerin“ und anderen sozialkritischen Straßenszenen über Lee Friedlanders „Shadow – New York City 1966“ und Ed Ruschas Künstlerbuch „Every Building on the Sunset Strip“ aus dem gleichen Jahr geht’s zu Jeff Walls berühmter inszenierter Sozialkritik: der im Leuchtkasten präsentierten Nachbarschaftsszene „An Eviction“ von 1988. Und eine Klasse für sich ist auch die Serie „Signs that say what you want them to say and not Signs that say what somone else wants to say“ von Anfang der 1990er-Jahre von Gilian Wearing, die auf ganz andere technische Weise von Mame-Diarra Niang mit ihrer Serie „Call Me When You Get There“ von 2020 fortgesetzt wird.

Überhaupt ist die inhaltliche Seite eine Sache, die technische eine andere. Nun sind hier keine Aufnahmen aus der Frühzeit der Fotografie zu sehen. Denn die Bestände der Pinakothek der Moderne konzentrieren sich auf das 20. und 21. Jahrhundert. Und gerade in jüngster Zeit und insbesondere seit dem Einsatz von KI hat die Technik eine neue Aufmerksamkeitsschwelle überschritten. Man erinnere sich nur an die große Ausstellung „Glitch“ an gleicher Stelle vom vergangenen Jahr. Und selbst diese würde man inzwischen erheblich ergänzen müssen, um aktuelle technische Strömungen deutlich zu machen.

Insofern haben die Kuratorinnen zwar versucht nah an die Gegenwart heranzureichen, bleiben dabei aber im traditionellen Umfeld. Das ist bei aller Wertschätzung für die Ausstellung und ihre schönen Gegenüberstellungen auch die notwendige Kritik: Die Sammlung benötigt dringend neue, auch experimentellere Positionen, um den Anschluss an die Moderne zu schaffen. Sonst gerät sie in Gefahr abgehängt zu werden. Ein bisschen Patina ist ja schön und gut. Nur verstaubt sollte sie dann doch nicht wirken.

On View. Begegnungen mit dem Fotografischen, Pinakothek der Moderne, bis 12. Oktober