AboNeue App aus der Schweiz –

Die KI analysiert Ihre Stimme – und sagt Ihnen, ob Sie Burn-out-gefährdet sind

Publiziert heute um 18:27 UhrEine Frau mit langem braunen Haar sitzt in einem Büro an einem Schreibtisch, hält beide Hände an ihre Schläfen und schaut bedrückt nach unten. Vor ihr liegt ein Laptop. Rechts und links sind je drei Hände mit Smartphones und Stiften gegen die Frau gerichtet.

Laut Bundesamt für Statistik fühlen sich in der Schweiz rund 25 Prozent der Arbeitstätigen gestresst. (Symbolfoto)

Foto: Getty Images

Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.BotTalkIn Kürze:

  • Die neue App Virtuosis analysiert mit künstlicher Intelligenz menschliche Stimmen. Dies, mit dem Ziel, eine Reihe von psychischen und neurologischen Krankheiten sowie Herz-, Stoffwechsel- und Atemwegserkrankungen frühzeitig zu erkennen.
  • Das Spin-off der ETH Lausanne arbeitet unter anderem mit Microsoft zusammen.
  • Die App soll kein Ersatz für Ärzte und Ärztinnen sein, sondern ein Hilfstool.

Das Prinzip der neuen KI-App Virtuosis ist einfach: Sie sprechen circa 30 Sekunden lang in Ihr Smartphone und wenige Sekunden später zeigt die App an, wie gestresst, ängstlich oder glücklich Sie sind. Entwickelt wurde die App vom gleichnamigen Ableger der ETH Lausanne. Dieser wurde 2021 von Lara Gervaise, Ingenieurin mit Fachgebiet Robotik, und Finanzunternehmer Edoardo Giudice gegründet.

Das vor zwei Jahren lancierte KI-Tool hat bereits mehrere Unternehmen im In- und Ausland überzeugt, die sich für das Wohlbefinden ihrer Angestellten einsetzen. Für Firmen ist die Nutzung von Virtuosis einfach, da es in die Kommunikations­plattform Microsoft-Teams integriert wird. Auch Spitzensportler und -sportlerinnen interessieren sich inzwischen für die App, die der breiten Öffentlichkeit zur Verfügung steht.

«Bei der Entwicklung der App stand bislang der nicht medizinische Aspekt im Vordergrund, das heisst die Messung des Wohlbefindens, die Prävention bestimmter psychischer Probleme und die Optimierung der Kommunikation», erklären Gervaise und Giudice. «In Zukunft soll Virtuosis auch als Früherkennungs- und Diagnosetool für bestimmte Krankheiten eingesetzt werden, insbesondere für neurologische Krankheiten sowie Herz-, Stoffwechsel- und Atemwegserkrankungen.»

Ein Mann und eine Frau, die circa 35 Jahre alt sind, sitzen an einem Tisch und schauen auf einen Laptop-Bildschirm, der eine Diagramm-Analyse zeigt.

Sie sind bei Virtuosis federführend: Edoardo Giudice und Lara Gervaise, die das Schweizer Spin-off mit Sitz in Épalinges (VD) gegründet haben.

Foto: Florian Cella

Wie künstliche Intelligenz Diabetes und Depression erkennt

Wenn das KI-Tool das Frequenzspektrum der Stimme entschlüsselt, überprüft es mehrere Dutzend Indikatoren, sogenannte Stimmbiomarker wie Tonlage, Rhythmus oder Modulation. «Die Kombination dieser Parameter gibt Auskunft über den psychischen Zustand der Person oder lässt auf bestimmte Krankheiten schliessen», erklärt Lara Gervaise. «Wir wissen zum Beispiel, dass Diabetes das Nervensystem im Kieferbereich beeinflussen und einen Säurereflux begünstigen kann, der die Stimmbänder unter Umständen schädigt. Dies bewirkt Veränderungen in der Stimme, die nachweisbar sind.»

Virtuosis erkennt Warnzeichen von rund 30 psychischen und somatischen Krankheiten. «Wir erzielen sehr gute Ergebnisse bei der Früherkennung von Parkinson. Die App erkennt das Zittern in der Stimme, selbst wenn es minim und für das menschliche Ohr nicht wahrnehmbar ist», sagt die Expertin.

Auch die Menopause verändert die Stimme

«Bei gewissen neurologischen Erkrankungen ist es recht einfach, ein mechanisches Problem (Beeinträchtigungen im Nervensystem, Anm. d. Red.) zu erkennen, das sich in der Stimme niederschlägt», bestätigt Idris Guessous, Professor und Leiter des Innovationszentrums der Universitätsspitäler Genf (HUG). «Bei psychischen Störungen ist es komplizierter, weil auch analysiert werden muss, wie sich die Person in eine Diskussion einbringt. Bei einer Depression ist die Stimme in der Regel flacher und monotoner.»

Virtuosis dient auch der Früherkennung der Menopause. «Hormonelle Veränderungen beeinflussen den Kehlkopf. Die Wissenschaft hat das zwar schon lange erkannt, doch Virtuosis geht einen Schritt weiter: Dank Deep Learning (einem Verfahren, bei dem KI-Modelle anhand grosser Datenmengen lernen, komplexe Probleme zu lösen, Anm. d. Red.) verbessert sich die Genauigkeit der Früherkennung», erklärt Gervaise.

Virtuosis ist kein Ersatz für Ärzte und Ärztinnen

Trotz präziser Früherkennung zahlreicher Krankheiten beschränkt sich die Version, die für die breite Öffentlichkeit bestimmt ist, auf die mentale Gesundheit und das Wohlbefinden. Mitgründer Edoardo Giudice erklärt den Grund. «Gegenwärtig sammeln wir noch zusätzliche klinische Daten, um das Tool zu verbessern. Es stellt sich jedoch die Frage, ob es für das Gesundheitswesen sinnvoll ist, wenn unser KI-Tool für alle Nutzerinnen und Nutzer, die grösstenteils keine medizinische Ausbildung haben, zugänglich ist.»

«Die App soll das medizinische Versorgungssystem nicht ersetzen, sondern ergänzen. Sinn und Zweck ist nicht, dass auf dem Smartphone-Display eine medizinische Diagnose aufploppt, die der Nutzer oder die Nutzerin ohne ärztliche Betreuung und ohne Information zu den Behandlungsmöglichkeiten zur Kenntnis nimmt», ergänzt Lara Gervaise.

Ein Mann um die 50 in einem dunklen Anzug mit Krawatte steht vor einem neutralen Hintergrund.

Idris Guessous ist Leiter des Innovationszentrums der Universitätsspitäler Genf (HUG).

Foto: PD

«Die Integration der künstlichen Intelligenz in die Medizin ist ein Vorteil, sofern das Ziel nicht darin besteht, die Ärzteschaft zu ersetzen, sondern sie zu unterstützen», sagt Guessous. «Virtuosis ist ein Fortschritt und zeigt, dass KI in Bereiche vordringen kann, von denen wir bisher annahmen, dass sie dem Menschen vorbehalten sind. Die Stärke der KI-Programme bestand bislang darin, Aufgaben auszuführen, die für uns Menschen kompliziert und zeitaufwendig sind, zum Beispiel die schnelle Zusammenfassung eines 100-seitigen wissenschaftlichen Berichts. Die KI hatte bislang hingegen Mühe mit Aufgaben, die für uns Menschen einfach sind, zum Beispiel Emotionen erkennen, wozu bereits ein Kind in der Lage ist.»

Missbrauch soll verhindert werden

Die ethischen Fragen, die der Einsatz von KI in der Medizin aufwirft, stellen sich auch bei Virtuosis. Die Erfinder betonen, dass der App Grenzen gesetzt werden. Bei einer Videokonferenz zum Beispiel soll sie nur die Stimme der Teilnehmenden analysieren, die sie aktiviert haben. Der Inhalt der Sätze und die Videobilder haben keinen Einfluss auf die Analyse.

Doch reicht diese Einschränkung aus, um zu verhindern, dass die App missbräuchlich eingesetzt wird? Wie soll beispielsweise verhindert werden, dass Unternehmen sie bei Vorstellungsgesprächen nutzen, um allfällige psychische Probleme oder Risiken von Bewerbenden zu identifizieren? Edoardo Giudice gibt Entwarnung und sagt: «Solche Anfragen erhalten wir immer wieder, doch sie stimmen nicht mit unseren Werten überein. Deshalb lehnen wir sie kategorisch ab und stellen Firmen keine Version zur Verfügung, die vollumfänglich frei zugänglich ist. Wir wollen mit Unternehmen zusammenarbeiten, die Virtuosis auf positive Art und Weise nutzen, und sind auch für Partnerschaften mit Stiftungen oder gemeinnützigen Organisationen offen.»

Virtuosis soll insbesondere auch in Regionen, in denen es nur wenige Ärzte und Ärztinnen gibt, zu einer verbesserten Gesundheitsversorgung beitragen. «In bestimmten Ländern führt der Ärztemangel zu einem verstärkten Einsatz der Telemedizin. Das ist grundsätzlich nicht schlecht, doch eine Krankheit wie Parkinson setzt eine ärztliche Vor-Ort-Diagnose voraus. Ein Tool wie Virtuosis, das die Krankheit frühzeitig erkennt und eine frühzeitige Behandlung ermöglicht, kann für Patienten und Patientinnen wertvoll sein und sehr viel in ihrem Leben verändern», sagt Lara Gervaise abschliessend.

Aus dem Französischen übersetzt von Yolanda Di Mambro.

Wie künstliche Intelligenz unseren Alltag verändert

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EinloggenRomaric Haddou ist seit 2016 Berichterstatter für das Ressort Waadt und Region. Er kümmert sich speziell um Themen aus dem Gesundheitsbereich.

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