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Kleinere Einheiten, weniger Ziele, mehr Schlagkraft – lang ist die Liste guter Rezepte für die Ukraine. Das Umschalten fällt den Verteidigern schwer.
Kiew – „Die Ukraine ist besser in der Lage, einen mobilen Krieg zu führen“, sagt Richard Williams. Den pensionierten Oberst der US-Armee zitiert aktuell die Kyiv Post mit der Idee an die Verteidiger, im Ukraine-Krieg „ihr derzeitiges defensives ,Zermürbungsspiel‘ gegenüber Russland aufzugeben, da diese Strategie nicht nachhaltig sei“, wie Alex Raufoglu berichtet. Wladimir Putins Invasionsarmee sei auf die Art kaum beizukommen. Ohnehin hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj jüngst angekündigt, wieder stärker in die Offensive gehen zu wollen.
Selenskyj am Ende seiner Geduld: „Putin versteht nur Gewalt“
„Putin versteht nur Gewalt“, zitiert ihn der Spiegel. Allerdings bleibt das Nachrichtenmagazin schuldig, wie genau der ukrainische Präsident Russland wieder zurückzudrängen gedenke; bisher hatten sich die Verteidiger mehr oder minder wacker geschlagen im Halten ihrer Stellungen. Der Spiegel spricht von ungeprüften Berichten, nach denen die Ukraine Gegenangriffe geführt habe in der Region Sumy im Nordosten und bei Pokrowsk weiter südlich an der Front. Auf Telegram habe Armeechef Oleksandr Syrsky von ersten Erfolgen gesprochen, ergänzt der Spiegel. Der letzte Erfolg der Ukraine ist aber auch schon ein Jahr her: der Angriff auf die russische Region um Kursk Anfang August 2024. Und wie die Deutsche Presseagentur (dpa) berichtet, verweigere sich Wladimir Putin weiterhin einem Treffen auf höchster Ebene.
Ukraine-Krieg: Die Ursprünge des Konflikts mit RusslandFotostrecke ansehen
Die Kyiv Post zitiert den Ex-US- und Ex-Nato-Offizier Williams damit, dass die ukrainischen Streitkräfte zwar dem Feind mehr Verluste beibrächten, Russland jedoch „über einen scheinbar endlosen Pool an Reserven verfügt und diese als entbehrlich betrachtet“. Dem Praktiker zufolge ein klarer und möglicherweise unschlagbarer Vorteil für den Aggressor. Laut Michael Kofman ist also eingetreten, was alle Experten prophezeit hatten – ein Krieg der vielen kleineren Einheiten, zeitraubend und verlustreich. In der Ukraine zeigt sich die klassische Form der russischen Kriegsführung, wie der Analyst in War on the Rocks geschrieben hat.
Ukraine-Krieg beweist: „Taktik der menschlichen Welle“ ist veraltet
Forscher des deutschen Thinktanks Stiftung Wissenschaft und Politik erwarteten bereits zu Beginn des russischen Überfalls Anfang 2022, „dass die Invasion in der Ukraine noch stärker als bisher mit veralteten, hauptsächlich auf Masse beruhenden Konzepten von Kriegsführung fortgesetzt wird“, wie sie schreiben. Historiker hatten dieses Verhalten aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg als „Taktik der menschlichen Welle“ bezeichnet: Überrennen des Gegners mit der schieren Zahl an mehr oder weniger gut ausgerüsteten oder mehr oder minder gut ausgebildeten Soldaten. Die Taktik der bisherigen Kriege hat sich aufgrund moderner Technologie jedoch als veraltet herausgestellt, wie das ukrainische Portal United24 am Beispiel der Ukraine aktuell urteilt.
„Letztlich wird der Erfolg des Landes davon abhängen, ob Kiew eine Siegestheorie entwickeln kann, die sowohl auf seinen eigenen Ressourcen als auch auf denen seiner Unterstützer aufbaut.“
Kursk erscheint dem Autoren Juri Marchenko als vielleicht die letzte Schlacht nach altem Muster gewesen zu sein: Das unbemerkte Massieren von Truppen in einem Verfügungsraum, um einen überraschenden und konzentrierten Schlag gegen eine feindliche Verteidigung zu führen und die gegnerische Front von hinten aufzurollen. „Die Technologie hat diesen Ansatz jedoch verändert. Dank allgegenwärtiger Drohnen und des einfachen Zugangs zu Satellitenbildern ist es heute nahezu unmöglich, unbemerkt eine starke Einsatztruppe zusammenzustellen – Truppenkonzentrationen und logistische Bewegungen werden sofort erkannt“, schreibt Marchenko.
Richard Williams fordert die Ukraine zur Initiative auf, in dem sie die aktuelle Taktik der Russen mehr oder weniger nachahme. In allen Frontberichten war bisher übereinstimmen berichtet worden, dass Russland über genügend infanteristische Kräfte verfüge, um die Front zu verlängern und die Schwerpunkte ihrer Attacken auseinanderzuziehen. Williams sieht daher den offensiven Vorteil der Russen darin, dass sie Zeitpunkt und Region ihrer Angriffe selbst bestimmen könnten. Das brächte ihnen die entscheidenden Vorteile auf dem Gefechtsfeld. Darin müsste die Ukraine ihre Angreifer aushebeln. Die „Massenbildung von Kräften gegen Stärke“, wie er sich ausdrückt, hätte zum jetzigen faktischen Stellungskrieg geführt. Um Positionsvorteile zu erringen, helfe nur eines.
Guter Rat an die Ukraine: „Einsatz konzentrierter Kräfte gegen die Schwachstellen des Gegners“
„Einsatz konzentrierter Kräfte gegen die Schwachstellen des Gegners“, fordert Williams in der Kyiv Post, „zur Schaffung unerwarteter Situationen und zur Überlistung des Feindes durch schnelle Aktions- und Reaktionszyklen“, so der Oberst außer Dienst. Die von aller Welt erwartete Sommeroffensive im zweiten Kriegsjahr war jedenfalls kläglich gescheitert, weil die benötigte Ausrüstung zu spät zur Verfügung stand und die Russen sich inzwischen befestigt hatten.
Wie Mick Ryan im August 2024 angemerkt hatte, war auch die Organisation der Brigaden so ungenügend gewesen wie die Ausbildung von Rekruten beziehungsweise Führungskräften, so der Analyst des australischen Thinktanks Lowy Institute. Das hat sich inzwischen weitgehend verbessert.
„Einsatz konzentrierter Kräfte gegen die Schwachstellen des Gegners“ fordert ein ehemaliger Nato-Offizier von der Ukraine, um eigene Akzente gegen Putins Invasionsarmee zu setzen. Hier führen ukrainische Soldaten Kampfübungen mit einem BMP-1 im Donbass durch (Symbolfoto). © IMAGO/Wolfgang Schwan
Wobei Präsident Wolodymyr Selenskyj zwischenzeitlich seine infanteristisch operierenden Einheiten ausgedünnt hatte zugunsten von Einheiten zur Drohnenkriegsführung – auch trotz eines allgemeinen Mangels an wehrfähigen Kräften in vermutlich allen Teilstreitkräften. Auch Mick Ryan hatte vor einem Jahr geahnt, was offenbar heutzutage gleichermaßen Fluch und Segen für die Ukraine bedeutet: die strategische Ausrichtung. „Kiews Angriffskomplex richtet sich derzeit gegen drei Hauptziele: die russische Ölindustrie, militärische Standardanlagen wie Flugplätze, Hauptquartiere, Truppenreserven, Luftabwehr und Logistikzentren sowie die Krim und die russische Schwarzmeerflotte“, hat Ryan 2024 notiert und bemerkt, dass die Ukraine aus diesen Möglichkeiten Ziele priorisieren müsse.
Ex-Militär rät der Ukraine: Eine Landstreitmacht ließe sich nur durch eine Landstreitmacht schlagen
Der Drohnenangriff in Russland unter dem Decknamen „Spinnennetz“ sowie die Vorstellung von aktuell zwei neuen Langstreckendrohnen Long Neptune und Flamingo scheint klar auf eine Offensive auf das russische Hinterland zu deuten. Denn die Ukraine sieht möglicherweise keine Chance, den Russen infanteristisch an der Kontaktlinie Herr zu werden; obwohl sie möglicherweise nicht darum herumkommen werden, vermutet Amos C. Fox. Ihm erscheint als Irrtum, dass Militärs im Westen heute überzeugt seien, „dass Kriege in zukünftigen Einsatzgebieten durch Distanzkriege gewonnen werden“, wie er schreibt. Seine Interpretation moderner Kriegführung ist einfach: Eine Landstreitmacht ließe sich nur durch eine Landstreitmacht schlagen.
„Um zukünftige Kriege zu gewinnen, benötigen westliche Streitkräfte robuste und widerstandsfähige Landstreitkräfte, die die besonderen Herausforderungen der Landkriegsführung meistern und gleichzeitig die technologischen Vorteile westlicher Streitkräfte nutzen können“, so der ehemalige Oberstleutnant der US-Armee im Armee-Magazin Military Review. Mensch-Maschine-Teams scheinen ihm das Zeichen der Zeit zu sein, also tatsächlich durch Drohnen ergänzte infanteristische Einheiten. Richard Williams empfahl gegenüber der Kyiv Post, dass die ukrainischen Streitkräfte bei Durchbrüchen mit begrenzten Zielen den Schwerpunkt auf die lokale, kurzfristige Überlegenheit in der Luft- und Artilleriebewaffnung legen sollten. Sozusagen ein massiver Schlag auf einen fokussierten Punkt, mit allem, was zur Verfügung steht, beziehungsweise in anderen Gefechten entbehrlich ist.
Im Gegensatz zu Richard Williams sieht Amos Fox im jetzigen Zustand des Krieges keine Anomalie von Kampfhandlungen solch gewaltiger Dimension: Abnutzung sei keine Folge von halb garen Taktiken, ausgemergelten Armeen oder minderwertiger Führung. Seit Russland realisiert hatte, die Ukraine nicht im Handstreich nehmen zu können und daher darauf aus ist, bis zum diplomatischen Einknicken Selenskyjs jeden Meter besetzten Boden zu halten, sei der Krieg weniger von geschickten Manövern geprägt, als vielmehr von erbitterten, zermürbenden Schlachten, so Fox in der Military Review. „In Wirklichkeit ist Abnutzung die ursächliche Folge zweier Merkmale moderner (und zukünftiger) Kriegsführung: Angriffe von oben und die Logik von Landkriegen“, schreibt er.
Mick Ryan vertritt eine von den Militärs abweichende Ansicht – für ihn fehlt eine grundlegende Strategie, welche Art Krieg sich der Westen leisten kann und will, wie er in seiner Analyse bereits 2024 formuliert hat: „Letztlich wird der Erfolg des Landes davon abhängen, ob Kiew eine Siegestheorie entwickeln kann, die sowohl auf seinen eigenen Ressourcen als auch auf denen seiner Unterstützer aufbaut.“