Stand: 26.08.2025 16:02 Uhr

In Mailand haben Forschende Tausende Tote aus dem 17. Jahrhundert gefunden und in Skeletten Kokain, Opium und Marihuana nachgewiesen. Eine Entdeckung, die die Drogen-Geschichtsschreibung verändert.


Lisa Weiß

Bioarchäologe Mirko Mattia zieht sich den weißen Schutzanzug an und setzt den Helm auf. In den Gewölben unter der Kirche von Mailands größter staatlicher Universität haben er und sein Team von der Uni Mailand einen gruseligen Fund gemacht – den will er jetzt zeigen.

Also rein in ein enges Loch im Boden. Über eine schmale Leiter geht es noch eine Etage tiefer, in eine dunkle Kammer. Die Luft riecht seltsam. Mattia schaltet einen Scheinwerfer an: überall Totenschädel, Knochen, ganze Skelette. Es ist eine Art Knochenberg, bis zu eineinhalb Meter hoch.

Knochenberg mit Menschen-Erde

„Früher war hier auf dem Uni-Gelände ein Krankenhaus für arme Menschen“, erklärt Mattia. Nicht alle sind wieder gesund geworden. Und die, die es nicht geschafft haben, liegen immer noch hier.

Mattia bückt sich, zeigt auf eine schwarz-gräuliche, bröselige Substanz zwischen den Knochen. Der Untergrund bestehe aus Kalk, damals wollte man damit den Leichengeruch überdecken, erklärt er: „Und aus einem neuen Typ Erde, die ist aus Knochensplittern und organischem Material.“

Menschen-Erde also. Von Menschen, die vor etwa 400 Jahren gelebt haben, die Ärmsten der Armen in Mailand. Mailand war damals sehr fortschrittlich: ein großes, modernes Krankenhaus, das Menschen, die unverschuldet in Not geraten war, kostenlos behandelte – das war damals in Europa keineswegs Standard.

In dieser dunklen Kammer unter der Kirche in Mailand liegen Tausende Knochen von Menschen. Mit Kalk überdeckt sollte der Leichengeruch eingedämmt werden.

Auf der Suche nach dem Rausch

Das Krankenhaus war jahrhundertelang an diesem Ort im Betrieb. Hier unter der Kirche wurden die Toten aus dem Hospital aber nur einige Jahrzehnte lang bestattet. Denn die Ärzte im Krankenhaus und die Anwohner beschwerten sich über den Verwesungsgestank aus der Kirche.

Deshalb wurden die Kammern verschlossen und sind über Jahrhunderte so gut wie unversehrt geblieben – ein Glück für Wissenschaftler wie Mirko Mattia. Er und sein Team bringen die Skelette Stück für Stück nach oben und nehmen sie unter die Lupe.

Dabei suchen sie nach etwas Speziellem: nach dem Rausch. Die Forschenden führen toxikologische Analysen durch, um Medikamente, Drogen oder Aufputschmittel zu finden. Mittel, die die Menschen damals eingenommen haben, um Hunger oder Müdigkeit auszuhalten – oder einfach nur, um Spaß zu haben.

Drogenspuren im Totenschädel

Die Forscherinnen und Forscher sind fündig geworden. Ein Stockwerk weiter oben wartet Cristina Cattaneo, sie ist Professorin für Forensik an der Universität Mailand. In der Hand hält sie einen Totenschädel. Vor ihr auf einem Tisch liegt der Rest des Skelettes aus der Kammer, daneben eine wabenartig geformte schwarze Substanz in einem Plastiktütchen. Hirnsubstanz aus dem Schädel, die sich über die Jahrhunderte erhalten hat.

„Darin lassen sich Drogenspuren finden“, erklärt Cattaneo und ergänzt mit Blick auf den Schädel in ihrer Hand: „In diesem hier haben wir vor allem Kokain gefunden. Das ist deswegen wichtig, weil das bedeutet, dass wir den Kokain-Gebrauch in Europa um zweihundert Jahre zurückdatieren können.“

Rauschmittel oder Medikamente?

In anderen Toten haben sie und das Team Cannabis nachgewiesen oder Opioide – also Stoffe wie Opium, ähnlich dem heutigen Heroin. Nur: Wie weist man nach, dass sich die Menschen damals wirklich berauscht haben? Die Skelette aus dem Krankenhaus könnten vor ihrem Tod die Stoffe auch als Medikamente bekommen haben.

Die Antwort findet man ein paar Meter weiter, in den hohen, prächtigen Räumen des Krankenhausarchivs. Hier stapeln sich die Akten, die Bücher, die Pergamente aus dem Krankenhaus in Regalen, fast bis zur Decke.

Kein Cannabis auf Rezept

Archivar Paolo Galimberti holt die alten Arzneibücher heraus, auch die aus der Zeit von vor 400 Jahren sind erhalten. „Dort sind alle Medikamente verzeichnet, die den Kranken verabreicht wurden“, erklärt er. Opioide zum Beispiel wurden schon seit der Römerzeit genutzt, um chirurgische Operationen ein bisschen weniger schmerzhaft zu machen.

„Aber in den Büchern findet sich keine Spur von kokainhaltigen Medikamenten oder Cannabis“, sagt Galimberti. „Wenn die Substanzen nicht in den Arzneibüchern stehen, dann wurden sie nicht im Krankenhaus verabreicht. Sie kamen von draußen.“ Das heißt: Cannabis und Kokain gab es definitiv im Mailänder Krankenhaus nicht auf Rezept.

Der Alltag der Armen

Aber die Forscherinnen und Forscher suchen nicht nur nach Drogen. Sondern nach auch allen anderen Spuren, die dabei helfen, den Alltag der Menschen damals zu rekonstruieren. Denn in den Geschichtsbüchern steht viel über Könige und Kriege, aber wir wissen wenig über das Leben der ganz normalen Menschen. Diese Skelette könnten das ändern.