Manchmal, wenn André Ortolf Blaubeeren isst, bereitet er sich darauf vor. Er baut mehrere Kameras auf, startet die Videoaufnahmen und erklärt seinen Gästen das Regelwerk. Dann geht es los: Er holt die Essstäbchen raus, befüllt den Teller – jede Stelle muss bedeckt sein – und legt sich seine Augenbinde an. Dann startet der Countdown, die Zeit läuft. In einer Minute verspeist er mit Stäbchen und verbundenen Augen genau 38 Blaubeeren – Weltrekord. Schon wieder.
In seiner Wohnung stapeln sich die Urkunden. Die meisten davon sind in Kartons verstaut, nur zwei hängen an der Wand: die allererste und die neueste, die ab und zu ausgetauscht wird. Der Rest liegt verpackt im Keller des 31-Jährigen. Der Augsburger hält in Deutschland die meisten Bestmarken im berühmten Guinness-Buch der Rekorde und steht weltweit auf Platz zwei.
Die Geschichte des Guinness-Buch der Rekorde beginnt mit einer Jagd
100 Meter in Ski-Stiefeln, in 13,85-Sekunden gelaufen – Weltrekord. Eine brennende Fackel mehr als fünf Minuten lang mit den Zähnen festgehalten – Weltrekord. 41 Dartpfeile mit Stahlspitzen in einer Minute mit der Hand gefangen – Wunden an den Händen, aber Weltrekord. Ein Katalog aus Absurditäten, wie er nur im Guinness-Buch stehen kann. Allesamt aufgestellt von dem Mann, der sagt: „Es ist ein Hobby, mehr nicht.“
Wenn es denn so ist, dann beginnt auch die Geschichte dieser unendlichen Jagd nach Rekorden, und sind diese noch so verrückt, mit einem Hobby – nämlich eben mit einer Jagd. Anfang der 1950er-Jahre, die irische Grafschaft Wexford. Die Teilnehmer auf der Pirsch, darunter Sir Hugh Beaver, der damalige Geschäftsführer der Bierbrauerei Guinness, geraten in eine Diskussion darüber, welcher jagdbare Wildvogel eigentlich der schnellste in Europa ist. Niemand weiß es, kein Nachschlagewerk gibt Auskunft. Jahre später erinnert sich Beaver an diese Szene und beauftragt 1954 die Londoner Journalisten und Statistiker Norris und Ross McWhirter, ein Buch mit Fakten und Rekorden zusammenzustellen, von der höchsten Kirche bis zum schwersten Nashorn. Am 27. August 1955, vor 70 Jahren, erscheint die erste Ausgabe des „Guinness Book of Records“, um genau solche Streitfragen zu klären – und natürlich Bier zu verkaufen. Exemplare werden in Pubs in ganz Großbritannien verteilt.
Was als Marketingidee beginnt, wird in kürzester Zeit zu einem globalen Phänomen. Der Seitenumfang des Buches wächst, farbige Fotos kommen hinzu. Die McWhirter-Brüder werden zu Fernsehstars und präsentieren Rekordhalter in Sendungen der BBC. Heute erscheint das Guinness-Buch in mehr als 100 Ländern, es gibt TV-Shows und Online-Datenbanken. Mehr als 155 Millionen Exemplare des Jahrbuchs wurden mittlerweile verkauft. Es gilt damit längst selbst als Rekordhalter. „Wir haben so viele ikonische Momente erlebt, die erstaunlichsten Leistungen im Hinblick auf Kraft, Geschicklichkeit und Ausdauer von Talenten aus aller Welt, und hoffen, dass das noch lange so bleibt“, sagt Craig Glenday, heutiger Chefredakteur von „Guinness World Records“ mit Sitz in London.
In der Guinness-Datenbank sind inzwischen mehr als 40.000 Rekorde verzeichnet
Als da wären: Xie Qiuping aus China hält mit 5,627 Metern Haarlänge seit dem 8. Mai 2004 den Rekord für die längste je gemessene Mähne einer Frau. Der Brite Johnny Strange zog im Jahr 2014 mit seinen Ohrpiercings ein Leichtflugzeug mit einem Gewicht von 677,8 Kilogramm über eine Strecke von 20,4 Metern. Liz West aus Manchester besitzt die weltweit größte Kollektion von Spice-Girls-Fanartikeln. Ein Mann zerbrach 46 Toilettendeckel in einer Minute mit dem Kopf. Ein anderer hielt es vier Stunden in einem Eiswürfelbad aus. In der Guinness-Datenbank sind inzwischen mehr als 40.000 Rekorde verzeichnet, doch ins Buch schaffen es nur rund 4000 pro Jahr – ausgewählt von einem Redaktionsteam in London, das nach Aktualität, Relevanz und Unterhaltungswert entscheidet.
Zu den am häufigsten gebrochenen Rekorden zählen der längste DJ-Marathon, der schwerste mithilfe von Klebstoff angehobene Gegenstand und die meisten in einer Minute mit dem Mund aus einem Wasserbecken gefischten Äpfel. Ebenfalls regelmäßig neu aufgestellt, so heißt es, werde jener für die älteste lebende Person. Aktuell ist das die Britin Ethel May Caterham. Sie wurde am 21. August 116 Jahre alt. Ihr Lebensprinzip: „Nie streiten, die Dinge gelassen nehmen und tun, was man mag.“
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André Ortolf hält den Rekord für die meisten blind gefangenen Zitronen in einer Minute: 74.
Foto: André Ortolf
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André Ortolf hält den Rekord für die meisten blind gefangenen Zitronen in einer Minute: 74.
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Zuhause bei André Ortolf spielen sich die meisten seiner Disziplinen am Esstisch ab. Mehr als ein Kilogramm Senf in einer halben Minute, eine ganze Flasche Chilisauce in Rekordzeit, Wassermelonen oder Blaubeeren in Massen – Ortolf hat vieles ausprobiert. Den Senf habe er nur einmal heruntergewürgt, es war grauenvoll. Mit der Chilisauce ging es leichter. Entscheidend sei, dass es sich fast immer um Zeitfenster von nur 30 oder 60 Sekunden handelt. „Ich kann verdammt gut essen“, sagt Ortolf, „und es ist immer nur diese eine Minute, die man durchstehen muss.“
Dabei sieht der Mann nicht aus wie jemand, der leidenschaftlich isst. Ortolf ist schlank und trainiert, wobei sein schwarzer Pullover das nur erahnen lässt. Seine Ärmel hat er an diesem Tag lässig hochgekrempelt, auf seinem rechten Arm prangt ein großflächiges Tattoo. Sein Haar ist kurz geschnitten und an den Seiten ausrasiert. Er lacht, wirkt entspannt und aufmerksam – wie jemand, der zufrieden ist mit sich und dem, was er tut. Nahezu täglich macht er Sport, auch weil er für viele seiner Weltrekorde fit sein muss, körperlich und mental.
Jedes Detail ist vorgeschrieben: die Zahl der Zeugen, Blickwinkel der Kameras, Waagen für Lebensmittel, Formulare für Unterschriften
Wer im Guinness-Buch auftauchen will, muss allerdings mehr tun, als nur schnell zu rennen oder außergewöhnliche Mengen Essen zu verdrücken. Jedes Detail ist vorgeschrieben: die Zahl der Zeugen, Blickwinkel der Kameras, Waagen für Lebensmittel, Formulare für Unterschriften. Schiedsrichter vor Ort bucht Ortolf fast nie, weil sie hohe Honorare verlangen. Stattdessen läuft fast alles in seiner Wohnung ab – Kameras an, Zeugen dabei, Dateien hochladen. „Am Ende ist das mehr Papierkram, als man sich vorstellen kann“, sagt er. „Aber genau das macht es offiziell.“
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André Ortolf hält auch den Rekord für die meisten, mit den Zähnen geknackten Walnüssen in einer Minute: 44.
Foto: André Ortolf
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André Ortolf hält auch den Rekord für die meisten, mit den Zähnen geknackten Walnüssen in einer Minute: 44.
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Bis die Anerkennung eintrifft, vergeht oft viel Zeit. Offiziell gibt Guinness an, dass die Prüfung eines Antrags bis zu zwölf Wochen dauern kann, die Auswertung des Beweismaterials nochmals bis zu zwölf Wochen. Wer schneller Klarheit will, kann einen Priority-Service buchen: 500 Pfund für bestehende Rekorde, 650 Pfund für neue Titel. Ortolf nimmt solche Angebote nicht in Anspruch – zu teuer bei der Anzahl seiner Titel. Aktuell hält er mehr als 130 offizielle Guinness-Rekorde, knapp 40 weitere sind noch nicht bestätigt. Damit kratzt er an der weltweiten Spitze. Der Erstplatzierte hat über 190 Titel, doch die Lücke will Ortolf schließen: 200 Rekorde sind das Ziel.
Kritik an seinen Aktionen begegnet ihm vor allem im Internet. Unter fast jedem Video, sagt er, finden sich Kommentare wie: „Das könnte ich auch.“ Ernster sind Vorwürfe der Lebensmittelverschwendung. Doch Guinness hat klare Regeln: Alles, was auf den Tisch kommt, muss auch gegessen werden. Egal, ob während des Rekordversuchs oder danach. Ortolf versichert, dass er diese Vorgaben genau einhält.
Finanziell ist das Unterfangen „Guinness-Buch der Rekorde“ keineswegs lukrativ
Bleibt die Frage, was Menschen dazu bewegt, einen Rekord aufzustellen. Chefredakteur Glenday zufolge lassen sich die Anwärter hinsichtlich ihrer Motivation nicht über einen Kamm scheren: „Manche suchen private oder spirituelle Erleuchtung, andere ihre 15 Minuten Ruhm und wieder andere wollen einfach nur ihren Namen im Buch sehen.“ Der Brite Colin Furze etwa sieht die Zertifikate als Anerkennung für die Projekte, „die er von der ersten Idee bis zur Umsetzung begleitet hat“, wie er anlässlich des Jubiläums sagt. Der ehemalige Klempner aus dem englischen Lincolnshire ist für waghalsige technische Konstruktionen bekannt. 2012 stellte er mit einem motorisierten Kinderwagen einen Rekord auf: Er kam damit auf bis zu 86 Kilometer pro Stunde. In Videos ist zu sehen, wie er mit dem Buggy über eine menschenleere Landstraße jagt. Zwei Jahre zuvor hatte er ein Elektromobil für Senioren zum zunächst schnellsten der Welt gemacht, es erreichte 114 km/h. Dieser Rekord wurde später von anderen überboten.
Warum sich André Ortolf das alles antut? Auf diese Frage findet er eine klare, aber sehr simple Antwort: Es sei in erster Linie Spaß, dazu komme der Ehrgeiz, die Lust an der Herausforderung. Er sieht sich selbst als „ganz normalen“ Menschen, der zeigen möchte, dass jeder mit Ausdauer und Training Außergewöhnliches erreichen kann. Der kindliche Ehrgeiz, in allem der Beste zu sein, treibt ihn an. Reich will er damit nicht werden.
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André Ortolf hält den Rekord für die meisten in einer Minute geöffneten Champagnerflaschen: zwölf.
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André Ortolf hält den Rekord für die meisten in einer Minute geöffneten Champagnerflaschen: zwölf.
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Denn finanziell ist das Unterfangen keineswegs lukrativ. Ein Preisgeld gibt’s nicht, Ortolf nennt die Rekordjagd ein „absolutes Minusgeschäft“. Kosten entstehen durch Technik, Material, Verpflegung für die Zeugen und gelegentliche Gebühren – auch für die Urkunde selbst verlangt Guinness inzwischen einen Betrag von 30 bis 40 Euro, sodass sich Ortolf vieles gar nicht mehr zuschicken lässt. „Ich mache das nicht für die Zertifikate, sondern für mich“, sagt er. Die Titel seien wichtiger als die Papiere.
Um die nächste Generation zu Rekorden zu inspirieren, hat die Guinness-Organisation quasi unbesetzte Titel ausfindig gemacht
Das Geld verdient er ohnehin woanders. Seit 2021 leitet Ortolf den Familienbetrieb, ein Recycling-Unternehmen. Bei Kundenterminen sitzt er am Schreibtisch, spricht über Preise für Schrott und Entsorgung – und wird am Ende auf seinen letzten Fernsehauftritt angesprochen. Man gewöhne sich daran, sagt er, und genau dieses Nebeneinander strukturiert seinen Alltag.
Für die Zukunft hat er sich eine lange Liste notiert. Er möchte die größte Breze backen lassen – dafür hat er schon mehrere Bäckereien in Augsburg angeschrieben. Auch Reisen plant er: In Wien will er die meisten Cafés an einem Tag besuchen, in Dublin die meisten Pubs, später soll auf jedem Kontinent mindestens ein Rekord folgen. Sein Ziel bleibt klar: Weltmeister werden. „Ich möchte nicht einfach knapp vorne liegen, sondern mit großem Abstand“, sagt Ortolf. Nicht nur auf dem Papier, sondern in jeder Disziplin, die er sich vornimmt.
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Und: André Ortolf hält den Rekord für den längsten Uno-Marathon im Team: 26 Stunden, eine Minute und 23 Sekunden.
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Und: André Ortolf hält den Rekord für den längsten Uno-Marathon im Team: 26 Stunden, eine Minute und 23 Sekunden.
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Es hört ja nie auf mit den Bestmarken. Um die nächste Generation zu Rekorden zu inspirieren, hat die Guinness-Organisation quasi unbesetzte Titel ausfindig gemacht, die „leicht zu erreichen und für jedermann offen“ seien. Dazu gehören das „schnellste 400-Meter-Sackhüpfen“, die „weiteste Entfernung, aus der eine Münze in einen Becher geworfen werden kann“ und „die meisten High Fives in 30 Sekunden“. Auch das Rätsel um den schnellsten jagdbaren Wildvogel Europas gilt als gelöst. Laut Guinness World Records handelt es sich dabei wohl um den Mittelsäger aus der Familie der Entenvögel.
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Susanne Ebner
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