Mario Draghi sorgt für Gesprächsstoff in Europa. In einer Rede in Rimini vergangenen Freitag hatte der frühere EZB-Präsident und frühere italienische Ministerpräsident der Europäischen Union die Leviten gelesen. Auf dem Treffen der Wirtschaftsnobelpreisträger in Lindau, wo Draghi am Dienstag sprach, bekam er dafür Zuspruch. Draghi hatte in größter Klarheit darauf hingewiesen, dass die Europäische Union nicht länger glauben könne, dass ihre große Wirtschaftskraft ihr automatisch globale Macht und Einfluss verleihe. Draghi wörtlich: „Dieses Jahr wird als das Jahr in Erinnerung bleiben, in dem diese Illusion verflogen ist.“

Als Beleg dafür nannte der 77-Jährige den Zollkonflikt mit den Vereinigten Staaten. „Wir mussten uns den von unserem größten Handelspartner und langjährigen Verbündeten, den Vereinigten Staaten, auferlegten Zöllen beugen“, sagte der frühere italienische Ministerpräsident. Die EU sei von den Vereinigten Staaten unter Druck gesetzt worden, die Militärausgaben zu erhöhen. Das wäre schon früher sinnvoll gewesen, so Draghi, doch die Art und Weise, wie der Druck ausgeübt wurde, habe nicht den europäischen Interessen entsprochen.

Der Italiener bezeichnete die EU als „Zuschauer“ bei den Konflikten in Iran und Gaza und sagte, der Block habe eine „relativ marginale Rolle“ bei den Friedensverhandlungen zur Beendigung des Krieges in der Ukraine gespielt, obwohl er am meisten zur Unterstützung des Landes beigetragen habe und das größte Interesse an einem „gerechten Frieden“ habe. Unter dem Strich hätten die jüngsten Ereignisse „jede Illusion beseitigt, dass die wirtschaftliche Dimension allein irgendeine Form von geopolitischer Macht gewährleistet“. In Lindau stellte Draghi klar, dass alles, was seit der Veröffentlichung seines Reports passiert sei, die Dringlichkeit nur erhöhe. „Wenn die EU ihre geopolitische Macht erhalten will, geht es nicht ohne Innovationen“, sagte Draghi. Der Ökonom betonte, dass die Fragmentierung in der EU ein Ende haben müsse. Aus Investitionen müssen endlich neue Erfindungen hervorgehen, die sich durchsetzen.

„Wir können uns auf dem, was wir erreicht haben, nicht ausruhen“

In Lindau bekam er dafür am Dienstag Zuspruch von Magnus Brunner, dem Innenkommissar der EU. „Wir können uns auf dem, was wir erreicht haben, nicht ausruhen, im Gegenteil“, sagte der frühere österreichische Finanzminister. Die drängendste Aufgabe sei, die nicht-tarifären Handelshemmnisse in der EU zu beseitigen, sagte Brunner. Er gab sich aber zugleich hoffnungsvoll. Die EU sei global in einer einmaligen Position, als verlässlicher Partner, der nicht erratisch handele, sagte Brunner, ohne Donald Trump namentlich zu erwähnen.

Draghi hatte in Rimini zudem die „neoliberale Phase“, die zwischen den 1980er Jahren und dem Beginn des Jahrtausends dominiert habe, für beendet erklärt. In dieser Zeit habe sich die EU erfolgreich an offene Märkte und internationales Recht angepasst. Nun seien die Regierungen mit am Zug: „Regierungen müssen festlegen, welche Sektoren sie in der Industriepolitik priorisieren“, forderte Draghi. Als wichtige Handlungsfelder nannte er den Energiesektor, Investitionsfinanzierung und eine neue Handelspolitik.

Freie Universitäten und Erfindergeist

Die Schärfe in der kritischen Analyse ist bemerkenswert. Zwar hatte der frühere Notenbanker schon im vergangenen Jahr mit dem „Draghi-Bericht“ im Auftrag der EU-Kommission den Finger mit deutlichen Worten in die Wunde gelegt: Die Produktivität und Innovationskraft in den Unternehmen und der Zustand des Binnenmarktes seien zu schwach, um international weiter eine führende Rolle einnehmen zu können. Die Schlagrichtung zielte da aber klar auf möglichen Reformansätzen, um die EU wettbewerbsfähiger zu machen. In seiner Rede in Rimini rief Draghi die EU zwar ebenfalls zu Reformen auf. Die Kritik am Zustand der EU klang nun aber grundsätzlicher und pessimistischer – womöglich auch deshalb, weil Draghis Report wenige greifbare Konsequenzen hatte.

Doch wie kann Europa in den Zukunftstechnologien im Vergleich zu Amerika und China aufholen? Jean Tirole, der Wirtschaftsnobelpreisträger aus dem Jahr 2014, betonte in Lindau, dass es für Innovation und Fortschritt nicht ausreiche, Arbeit und Kapital anzuhäufen. Es brauche freie Universitäten, Erfindergeist, Unternehmertum und Innovationscluster. Und vor allem müssten es junge, innovative Unternehmen schaffen, in bestehende Hightech-Märkte einzudringen. „Da gibt es Probleme“, sagte der Ökonom. Das habe unter anderem mit fehlender Finanzierung zu tun.

Draghi betonte, dass es nicht alleine am Geld scheitere. Die EU gebe als Anteil am Bruttoinlandsprodukt etwa dasselbe aus wie die Vereinigten Staaten. Aber auch hier gebe es eine große Fragmentierung in der EU. „Ein wenig, weil wir allen ein bisschen was geben wollen“, sagte Draghi und warnte: „Das ist genau das, was man nicht machen sollte, wenn man disruptive Innovationen haben möchte.“ Er hob als weiteren Unterschied hervor, dass in Amerika 80 Prozent privates Geld in diesen Bereich fließe, 20 Prozent staatliches Geld. „In der EU ist es genau andersherum“, kritisierte Draghi und plädierte dafür, Geld aus den existierenden Universitäten rauszunehmen und in „exzellente Cluster“ zu lenken. Bei den gegebenen Anreizen sei es allerdings im Unterschied zu den Vereinigten Staaten schwierig, privates Geld in der EU zu aktivieren.

In Lindau treffen sich von Dienstag bis Samstag Wirtschaftsnobelpreisträger und Nachwuchsökonomen zu einer Wissenschaftskonferenz. 22 Preisträger haben sich angekündigt, darunter mit Simon Johnson einer der aktuellen Preisträger, sowie namhafte Forscher wie Jean Tirole, Paul Romer und Joseph Stiglitz. Im Fokus steht der Austausch mit 300 Doktoranden und Post-Doktoranden aus 55 Ländern in Paneldiskussionen, Vorträgen und gemeinsamen Abendveranstaltungen. In den kommenden Tagen können einige Vorträge auch in einem Livestream verfolgt werden.