Pro

Wer mit dem Lastenrad den Einkauf im Biomarkt erledigt, handelt löblich. Doch schnell gerät dabei in Vergessenheit: Die Waren müssen überhaupt erst in die Stadt kommen. Obst, Brot, Baustoffe, Medikamente – sie reisen nicht auf Pedalen, sondern auf Lkw. Ohne funktionierende Verkehrsachsen steht die Nahversorgung still. Berlin wächst, die Versorgung wird komplexer, und der Wirtschaftsverkehr ist das Rückgrat der Hauptstadt. Der Ausbau der A100 ist daher kein rückwärtsgewandtes Projekt, sondern eine Investition in die Zukunftsfähigkeit Berlins.

Christoph M. Kluge Christoph M. Kluge ist Wirtschaftsredakteur beim Tagesspiegel und fährt privat einen Pkw mit sparsamem Verbrennungsmotor.

Eine Stadt mit fast vier Millionen Einwohnern lässt sich nicht allein mit Radwegen sowie U- und S-Bahnen organisieren. Lieferketten für Handel und Bau funktionieren nur, wenn der Verkehr auf leistungsfähigen Trassen fließt. Handwerker, Pflegedienste und Rettungswagen brauchen verlässliche, schnelle Routen. Menschen, die morgens mit dem Auto zur Arbeit fahren müssen, weil der Öffentliche Nahverkehr schon außerhalb des S-Bahnrings dünn wird, haben ebenso Anspruch auf Mobilität wie Radfahrende in Prenzlauer Berg. Natürlich müssen Bahn- und Busrouten ausgebaut werden. Doch auch die modernste S-Bahn liefert keine Baumaterialien in die Innenstadt. Verkehrsberuhigung im Zentrum gelingt nur mit einer Autobahn.

Verkehrsberuhigung im Zentrum gelingt nur mit einer Autobahn.

Christoph M. Kluge, Tagesspiegel-Redakteur

Denn wenn sich Laster und Lieferwagen durch Wohnstraßen quälen müssen, sind die Unfallrisiken für Radfahrer und Fußgänger besonders groß. Um in den Kiezen Platz für diese zu schaffen, braucht es die Möglichkeit der Umfahrung. Stau in dicht besiedelten Gebieten bedeutet überproportional hohe Emissionen von CO₂, Stickoxiden und Feinstaub. Das gilt natürlich auch für den privaten Verkehr. Auf der Stadtautobahn hingegen ist der Ausstoß pro Kilometer geringer, weil der Verkehr fließt.

Berlin steht vor der Wahl

Auch in Zeiten zunehmender Elektromobilität ändert sich das nicht grundlegend. Selbst E-Autos erzeugen Feinstaub und Reifenabrieb und sind zudem für die meisten nicht bezahlbar. Die Verkehrswende kommt, aber der Wandel dauert deutlich länger, als manche glauben möchten. In der realen Welt steht Berlin vor der Wahl. Entweder weiter Staus, Lkw-Kolonnen und schlechte Luft in den Wohnvierteln. Oder ein konsequenter Ausbau der A100, der Versorgung, Sicherheit und Klimaziele in Einklang bringt.

Nun kommt es darauf an, die Elsenbrücke schnell fertigzustellen und den 17. Bauabschnitt auf den Weg zu bringen. Wer eine lebenswerte, saubere, grünere und zunehmend autoarme Innenstadt will, sollte nicht gegen die Autobahn kämpfen, sondern auf ihr Gelingen setzen.

Kontra

Die abermalige Verlängerung der A100 bis zur Storkower Straße klingt nicht nur wie eine Idee aus dem vorigen Jahrtausend, sie ist es auch. 1999 begannen die Vorplanungen für die 5726 Meter lange Betontrasse. Zur Erinnerung: Damals war der einstige Kanzler Gerhard Schröder (SPD) gerade ein Jahr im Amt, Berlin wurde zum zweiten Mal von Eberhard Diepgen (CDU) regiert und – so viel Nostalgie muss sein – Hertha BSC qualifizierte sich als Tabellendritter der Fußball-Bundesliga für die Champions League.

Robert Kiesel Robert Kiesel arbeitet seit 2018 als landespolitischer Korrespondent für Berlin beim Tagesspiegel. Er hat Politikwissenschaft in seiner Heimatstadt Berlin studiert und das journalistische Handwerk in Mecklenburg-Vorpommern erlernt. Erstkontakt via robert.kiesel@tagesspiegel.de

Seitdem hat sich nicht nur sportlich vieles verändert, auch das Mobilitätsverhalten der im selben Zeitraum um eine halbe Million Menschen gewachsenen Stadt unterscheidet sich grundsätzlich von dem zur Jahrtausendwende. Wo früher das eigene Auto zur Grundausstattung gehörte wie der Röhren-Farbfernseher, entscheiden sich heute immer mehr gegen das Auto vor der Tür. Pro Kopf sinkt die Zahl der in Berlin zugelassenen Pkw. Ein Trend, der sich angesichts steigender Preise für endliche Ressourcen und des viel zu teuren Umstiegs auf E-Motoren in Zukunft beschleunigen dürfte.

Bis zur Fertigstellung dürften 20 Jahre vergehen

Deshalb und vor dem Hintergrund dessen, was vergleichbare europäische Metropolen aktuell unternehmen, um die Verkehrswende umzusetzen, wirken die Pläne für eine erneute Verlängerung der A100 aus der Zeit gefallen. Deutlich mehr als eine Milliarde Euro dürfte es realistisch kosten, die seit Mittwoch am Treptower Park endende Stadtautobahn um fünf Kilometer (!) zu verlängern. Bis zur Fertigstellung dürften gut und gern 20 Jahre vergehen – zumal die aktuell geplante Tunnelvariante baufachlich deutlich aufwendiger umzusetzen ist.

Die Pläne für eine erneute Verlängerung der A100 wirken aus der Zeit gefallen.

Robert Kiesel, Tagesspiegel-Redakteur

Um Missverständnissen vorzubeugen: Berlin braucht ein leistungsfähiges Straßennetz. Lieferverkehr, Baumaterialien und Rettungsdienste werden auf absehbare Zeit weder per Lastenrad noch im Flugtaxi ihr Ziel erreichen. Wer etwas anderes sagt, verschließt die Augen vor der Realität.

Und dennoch lassen sich die legitimen Bedarfe derer, die dringend auf freie Straßen angewiesen sind, nachhaltiger und zeitgemäßer befriedigen als durch das Verlängern einer sechsspurigen Betonschneise, die mehr und nicht weniger Verkehr nach sich ziehen wird. Der Schlüssel dazu, dem in einer Vier-Millionen-Metropole unerlässlichen Gewerbeverkehr freie Fahrt zu ermöglichen, liegt in der Reduzierung des individuellen Autoverkehrs.

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Erst wenn Alternativen wie Öffentlicher Nahverkehr, das Radfahren und auch Car-Sharing attraktiv genug ausgebaut sind, um einen Umstieg auch in der Masse auszulösen, gibt es echte Verbesserungen für die, die nicht umsteigen können. Das zu erreichen sollte das vornehmliche Ziel einer jeden Berliner Landesregierung sein, völlig gleich welcher Couleur. Den in Zeiten harter Kürzungen und knapper Kassen grotesk teuren Ausbau der in den 1950er Jahren konzipierten A100 können sich der Bund und Berlin dann getrost sparen.