Das Erste, was wir in „Caught Stealing“ zu sehen bekommen, sind die über der New Yorker Skyline thronenden Twin Towers des World Trade Centers. Später läuft im Hintergrund auf einem Röhrenfernseher eine Folge von „Jerry Springer live“, in der mal wieder eine kalkulierte Schlägerei losbricht – diesmal, weil der Krawall-Talkmaster sich einige vollständig kostümierte Ku-Klux-Klan-Mitglieder in die Sendung eingeladen hat. Ja, wir sind definitiv in den Neunzigern, selbst die Körnigkeit der analog wirkenden Bilder ist dieser Epoche nachempfunden. Obwohl sich Darren Aronofsky mit seinen ersten Filmen wie „Pi“ oder „Requiem For A Dream“ selbst in dieser Hochzeit des Indie-Kinos als Regisseur etabliert hat …
… erinnert „Caught Stealing“ allerdings viel eher an die frühen Werke von Quentin Tarantino („Pulp Fiction“) und Guy Ritchie („Bube, Dame, König, grAs“). Kommt die Verfilmung des 2004 erschienenen Romans*, den Charlie Huston mit „Six Bad Things“* und „A Dangerous Man“* bereits doppelt fortgesetzt hat, also ein Vierteljahrhundert zu spät? Nein, denn ein so arrivierter Regisseur wie Aronofsky („Black Swan“, „The Whale“) bringt natürlich seine ganz eigene Handschrift mit – und die besteht hier vor allem darin, dass zwischen all der schwarzhumorig-überhöhten Gangster-Gewalt die ganze schmerzhafte Verzweiflung des vermeintlich machtlosen Protagonisten jederzeit durchscheint.
Sony Pictures
Hank Thompson (Austin Butler) greift zur Verteidigung zwar auf seine Erfahrung als Beinahe-Baseball-Profi zurück, wird aber trotzdem brutal vermöbelt.
Als Highschool-Schüler stand Hank Thompson (Austin Butler) einst kurz vor einer Karriere als Baseball-Profi, aber dann zertrümmerte ihm ein selbstverschuldeter Autounfall das Knie. Inzwischen schlägt er sich im New York des Jahres 1998 als Barkeeper durch. Dass sein Arbeitsplatz eher zwielichtig ist, lässt sich schon daran erkennen, dass er mitunter Briefumschläge entgegennehmen und durch den Postschlitz einer Stahltür im Keller schieben muss. Sein einziger Lichtblick: seine Beziehung zu der Krankenwagenfahrerin Yvonne (Zoë Kravitz).
Der eigentliche Abstieg für Hank beginnt jedoch, als sein Nachbar Russ (Matt Smith), ein Drogendealer mit Irokesenschnitt, ihn bittet, in seiner Abwesenheit auf seine Katze aufzupassen. Denn nur wenig später stehen zwei russische Mafiosi im Treppenhaus und treten den überrumpelten Hank gnadenlos zusammen. Offenbar ist er ohne eigenes Zutun zwischen die Fronten verschiedener Gangster-Gruppierungen geraten. Denn auch die jüdisch-orthodoxen Killer-Brüder Lipa (Liev Schreiber) und Shmully (Vincent D’Onofrio) sind plötzlich hinter ihm her – ebenso wie der ruchlose Auftragsmörder Colorado (Bad Bunny)…
Selbst die Niere ist nur der Anfang
Der britische Punker Russ, der den ganzen Schlamassel überhaupt erst ins Rollen bringt, aber seinen Kater liebt; der russische Handlanger Pavel (Nikita Kukushkin), der sich wie ein wildgewordener Terrier aufführt; der Gastauftritt von Latin-Rap-Superstar Bad Bunny, bei dessen Fake-Bart die Maskenbilder*innen wohl extra danebengegriffen haben; die Brüder Lipa und Shmully, die die mit Fedora und Schläfenlocken zwar den Sabbat achten, aber trotzdem als die ruchlosesten Monster Manhattans gelten: Wenn man ChatGPT bittet, nur anhand dieser Figurenbeschreibung zu raten, von welchem Regisseur der dazugehörige Film wohl stammt, kommt dabei wenig überraschend das folgende Trio heraus:
- Guy Ritchie
- Quentin Tarantino
- Martin McDonagh
Auch die mitunter extremen Gewaltspitzen sowie der oft rabenschwarze Humor passen perfekt zu den genannten Regienamen. Aber schon bei der ersten Konfrontation mit der Russen-Mafia im Treppenhaus spürt man, dass Darren Aronofsky doch noch mal eine merklich andere Tonlage anstrebt: Wenn Pavel wieder und wieder auf den wehrlos am Boden liegenden Hank eintritt, dann fällt irgendwann alles Skurrile und Schwarzhumorige von der Szene ab – und es tut einfach nur noch weh! Kein Wunder also, dass Hank direkt eine seiner Nieren herausgenommen werden muss. Und auch sonst sind selbst Figuren, bei denen man wetten würde, dass sie den Abspann noch erleben, nicht davor sicher, kurz und bündig abserviert zu werden.
Sony Pictures
Neben den Gewaltspitzen auch in „Caught Stealing“: Sehr heiße Menschen haben sehr heißen Sex!
„Caught Stealing“ orientiert sich also durchaus an seinen offensichtlichen Vorbildern. Aber im Gegensatz zu „Pulp Fiction“ & Co., wo Gewalt oft mit einer trockenen Pointe („Oh Mann, ich hab Marvin ins Gesicht geschossen!“) abgetan wird, hat sie hier tatsächlich spürbare Konsequenzen.
Hank ist trotz Austin Butlers ausgestelltem Waschbrettbauch kein cooler (Anti-)Held, der von Anfang an alle gegeneinander ausspielt, sondern zunehmend ein Getriebener, dem längst alles über den Kopf gewachsen ist und der gar nicht mehr hinterherkommt, die Konsequenzen der sich auftürmenden Geschehnisse überhaupt noch zu verarbeiten. Das verleiht der sich immer schneller wirbelnden Gewaltspirale des superstylisch gefilmten „Caught Stealing“ einen unentrinnbaren Sog, selbst wenn sich mancher Twist recht deutlich ankündigt und auch nicht immer zu 100 Prozent glaubhaft wirkt.
Fazit: Wäre „Caught Stealing“ tatsächlich im Jahr 1998 erschienen, würde man ihn wahrscheinlich in einer Reihe mit einigen der Indie-Klassiker dieser Ära – vor allem von Quentin Tarantino und Guy Ritchie – nennen. Ein Vierteljahrhundert später wird er zwar eher keinen vergleichbaren Abdruck hinterlassen, aber trotzdem liefert Darren Aronofsky nicht einfach nur ein plump-nostalgisches Neunziger-Revival, sondern drückt dem Genre seinen ganz eigenen, oft tragisch-schmerzhaften Stempel auf.
*Bei den Links zum Angebot von Amazon handelt es sich um sogenannte Affiliate-Links. Bei einem Kauf über diese Links erhalten wir eine Provision.