Eine Kundgebung der Initiative Palästina Stuttgart gegen die andauernde Nakba-Repression in Jerusalem im Mai 2021. Foto: Lichtgut
Eine Frau wurde in Stuttgart wegen der Verwendung der Parole „From the river to the sea“ verurteilt. Nicht alle Gerichte legen den Satz als Kennzeichen der Hamas aus.
Am 6. Oktober 2024 ging es wider Erwarten ruhig zu in der Stuttgarter Innenstadt. Gleich zwei Demos hatten sich an dem Tag angekündigt, um an den Jahrestag des verheerenden Terrorangriffs der Hamas auf Israel zu erinnern. Ein Jahr zuvor hatte die Terrororganisation 1139 Menschen in Israel ermordet, 250 Menschen als Geisel genommen und auf brutale Weise sexuelle Gewalt an Frauen verübt. Eine der Stuttgarter Demos war eine Solidaritätsbekundung für Israel und die andere hatte das Thema „Freiheit für Palästina“. Die Polizei vermeldete an dem Tag, dass alles friedlich blieb und es trotz zu erwartender Spannungen zwischen den beiden Gruppen keine Konfrontation gegeben habe.
Bei der Pro-Palästina-Demo kam es jedoch zu einem Vorfall, der ein paar Monate später das Amtsgericht Stuttgart beschäftigt sollte. Die Demo sollte wie angekündigt kurz nach 15 Uhr beginnen. Eine Studentin, die als Leiterin der Organisation auftrat, las zu Beginn der Kundgebung die Auflagen für die Versammlung vor. Es sei unter anderem verboten, die Parole „From the river to the sea“ zu verwenden. Gegen eben diese Auflage habe sie jedoch selbst verstoßen. Die Frau habe nämlich süffisant in die Runde gefragt: „Damit es wirklich alle verstanden haben: Was dürft ihr nicht sagen?“ Daraufhin hätten einige Teilnehmer die Parole weiterskandiert.
Für diesen Akt wurde sie unter anderem wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen in Tateinheit mit einem Vergehen des Nichtbefolgens von Auflagen des Versammlungsgesetzes zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu je 10 Euro verurteilt. So heißt es in der Urteilsbegründung vom 7. April, die unserer Zeitung vorliegt.
Gerichte urteilen über den Satz unterschiedlich
Das Urteil ist dadurch besonders brisant, dass Gerichte über ähnliche Fälle bisher unterschiedlich geurteilt haben. Das Stuttgarter Gericht nimmt in der Urteilsbegründung beispielsweise Bezug auf die Entscheidung des Landgerichts Mannheim vom 29. Mai 2024. Dieses hatte den Erlass eines Strafbefehls abgelehnt. Laut eines Berichts von Legal Tribune Online habe ein Mann im Mai 2023 bei einer Demo, die sich mit Palästina solidarisierte, ein Plakat mit der Aufschrift der besagten Parole hochgehalten.
Besonders kritisch hat das Gericht in der Begründung einen Vorstoß des Bundesinnenministeriums (BMI) betrachtet. Dieses hatte vor einiger Zeit die Verwendung jener Parole als nicht zu tolerierende antisemitische Äußerung eingestuft. Dadurch habe das Ministerium auch Einfluss auf Gerichtsentscheidungen zu dem Thema genommen. Denn Gerichte würden bei ihren Urteilsbegründungen auf Anweisungen des BMI Bezug nehmen. Auch baden-württembergische Ermittler hatten als Reaktion auf die Weisung des BMI angekündigt, härter gegen die Parole vorzugehen. So ist das allem Anschein auch bei der Demo in Stuttgart passiert.
Dennoch gibt es unterschiedliche Auslegungen in Gerichtsurteilen dieser Art. Im Kern geht es wie im Fall der Stuttgarter Studentin um die Frage, ob die Studentin im Rahmen der Meinungsfreiheit gehandelt hat. Nach wie vor ist die genaue Bedeutung der Parole Interpretationssache.
Parole kann von der Meinungsfreiheit gedeckt sein
Ein Jurist, der sich mit der Strafbarkeit der Parole intensiv auseinandergesetzt hat, ist Professor Kai Ambos. Er schreibt den Satz nicht ausschließlich der Hamas zu. Auf Nachfrage verweist er auf seine Recherchen und einen Artikel, den er am 12. Juli in der Juristenzeitung zu dem Thema geschrieben hat. Auch wenn der Satz „From the river to the sea“ in ähnlicher Weise in Artikel 20 der Hamas-Charta auftauche, sei er nicht eindeutig im Sinne einer Parole, die der Terrororganisation zugeschrieben werden könne, zu verstehen. Eine Strafbarkeit der Verwendung des Slogans sei bei abstrakter Verwendung nicht gegeben. Nur wenn man diesen mit eindeutigem Bezug zu einer verbotenen Organisation verwende, könne man wegen des Kennzeichenverbots nach Paragraph 86 Absatz 2 Strafgesetzbuches verurteilt werden. Bei der Stuttgarter Studentin hatte dieser eindeutige Bezug den Erkenntnissen nach gefehlt.
Dabei müsse man auch den komplexen historischen Kontext der Parole genauer betrachten. Der Satz sei seit den 60er Jahren im Kontext des palästinensischen Befreiungsdiskurses verwendet worden – zunächst von der PLO und dann später teilweise von der Hamas. Er beschreibe geografisch den Bereich zwischen dem Fluss Jordan und dem Mittelmeer. Jedoch sei der Slogan nicht immer in einem Kontext verwendet worden, der eine Vernichtung Israels andeute. Der Ausspruch habe beispielsweise auch biblische Wurzeln und sei in der Vergangenheit auch von zionistischen Befürwortern verwendet worden.
Kritik am Innenministerium
Auch Kai Ambos kritisiert das BMI scharf für dessen Umgang mit der Parole. Das Ministerium habe sich beispielsweise nicht mit der gut recherchierten Begründung des Landgerichts Mannheim auseinandergesetzt, sondern sich stattdessen nur auf diffuse Erkenntnisse der Sicherhheitsbehörden verlassen. Bisher gibt es keinen Hinweis darauf, dass sich das BMI bei dem Thema umorientieren wird. Es bleibt daher auch in Zukunft offen, ob sich Gerichte bei ihren Urteilsverkündungen an Mannheim orientieren werden oder an Stuttgart.