Zu viele Fragen könnten einem womöglich die Freude an diesem süffig elegant geschriebenen Buch vergällen: Warum kündigt Ashok Oswald plötzlich seinen Job als Vorstandsvorsitzender eines bedeutenden Mischkonzerns, um sich als eine Art Detektiv in eigener Sache dem Geheimnis eines 40 Jahre alten Manuskripts zu widmen? Weshalb verfolgt er seine neue Mission so schludrig, dass es ihm nichts ausmacht, wenn der Busfahrer seine Klapperkiste nicht fahrplanmäßig quer durch Irland nach Thurles lenkt (wo ihm ein Treffen mit einem tot gewähnten Bekannten, dem Verfasser des Manuskripts, in Aussicht gestellt war), sondern nach Portumna?

Wieso steigt Oswald dort auf ein Motorboot, ohne zu wissen, wohin es fährt, und wird auf eine kleine Insel im Lough Dergh mitgenommen, wo sich ein vergessenes Quartett internationaler Muschelforscher die Wartezeit bis zur Rückkehr nach Dublin mit mazedonischen Lebensmitteln vertreibt? Warum hat er sich am Morgen vor der Überfahrt für ein Weiterleben ohne Smartphone entschieden? Anders gefragt: Warum wird der mächtige CEO über Nacht zur Marionette nicht näher definierter Mächte, hinter denen sich womöglich einfach die abgründige Fantasie des Schriftstellers Heinrich Steinfest verbirgt, wohnhaft lange in Stuttgart, mittlerweile bei Heidelberg, aufgewachsen freilich in Wien, so wie seine Hauptfigur?

Neues über das Wesen der Liebe?

Der sich logischen Begründungen entziehende Lebensschwenk mag mit dem ungebetenen Besuch zweier Männer und einer Schlägerin eines Morgens an Ashok Oswalds „unsinnig großen“ Kölner Pool zusammenhängen. Das Trio fordert die Herausgabe eines „Hunger“ betitelten Manuskriptes, das dem Spitzenmanager 40 Jahre zuvor zur Verwahrung anvertraut worden war, und zwar von einem fremden Bluffspezialisten, der eine Wiener Schauspielerin kannte, an der Oswald im Schneesturm Gefallen fand.

Damals, als Mittzwanziger, störte es Oswald nicht, wenn die Frau eine Generation älter war als er selbst. Später, als CEO, kehrten sich seine Vorlieben um, sehr zum Missfallen des Erzählers: „Denn es war nun mal jämmerlich, dieser Versuch, mittels eines anderen Menschen eine Zeitreise antreten zu wollen“, schreibt Heinrich Steinfest grammatikalisch kreativ über klassische Alters- und Attraktivitätsgefälle. Damals, als Lebensmittelchemiker und Steinpilzforscher, übte Oswald auch noch keinen Einfluss auf die Politik aus, „wie es ja eigentlich immer die Wirtschaftsleute sind, die de facto über Krieg und Frieden und das Glück und das Elend einer Gesellschaft entscheiden“, weiß Heinrich Steinfest, der sehr kunstvoll über Sachverhalte ganz unterschiedlicher Bedeutungslevels zu urteilen vermag: Kraulen im Pool sei super, Brustschwimmen hingegen ein absurder „Gewaltakt“. Klaus Nomi sei „der erste Popstar“ gewesen, der an Aids gestorben ist. Kochen bedeute, „Totes zum Leben zu erwecken“. Oder, ganz groß: „Liebe führt zu einer Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst. Der Liebende ist immer auch ein Selbstmörder.“

Derartige Kommentare zum Weltenlauf stören nicht den Handlungssog, der Oswald und mit ihm den gebannten Leser alsbald erfasst: Auf der asphaltierten Erde, im Wasser und an Bord eines Ryanair-Flugzeuges gerät ganz schön viel in Bewegung, auch wenn Steinfest Grundkenntnisse des Englischen voraussetzt (die Atmosphäre im Semple-Stadion während eines Hurling-Matches wird beispielsweise als „something between going to holiday and returning home from it“ beschrieben) und überdies Kafka-Lektüre, wenn man sich an der einschlägige Anspielung freuen möchte. Einmal denkt man sogar kurz, Steinfest verlange seinen Lesern rudimentäres Mazedonisch ab, aber ein paar Zeilen später erbarmt er sich und liefert die Übersetzung des für den Fortgang der Geschehnisse nicht unwichtigen Wortes „Utroto“ nach.

Die in Irland beliebte Ballsportart Hurling spielt in Heinrich Steinfests neuem Buch eine gewichtige Rolle. Foto: Imago

Ja, „Das schwarze Manuskript“ ist ein richtig spannendes Buch, bis es beim Hurling-Match in der irischen Provinz zu einer weiteren vielversprechenden Begegnung kommt. Dieses Buch streift Fragen nach Schuld und Verantwortung anhand von Batterieproduktion, Kunstsammelei und des Umgangs mit Hausangestellten, ohne sich anzumaßen, dem Leser Patentlösungen einzuflößen. Zugleich weckt es Sehnsucht nach Irland im Regen und nach Wien im Winter. Auf unaufdringliche Weise empfiehlt es dabei als Grundhaltung Respekt und Toleranz.

Nach besagtem Hurling-Match präsentiert Heinrich Steinfest allerdings eine Agatha-Christie-haft anmutende Auflösung, die ab Seite 218 zunehmend akademisch-rituell wirkt, etwa so wie 16 überflüssige Takte am Ende eines grandiosen Songs. Wer die letzten 20 Seiten des Romans wegrupft oder sie zumindest schwänzt, erlebt aber ein wahnsinnig vergnügliches und auf vielerlei Ebenen unterhaltsames Buch.

Heinrich Steinfest: Das schwarze Manuskript. Piper Verlag. 240 Seiten, 23 Euro.

Info

Autor
Heinrich Steinfest wurde 1961 in der australischen Stadt Albury geboren, wuchs in Wien auf und lebte lange als Schriftsteller und Maler in Stuttgart. Vor ein paar Jahren zog der passionierte Hobbyläufer in die Nähe von Heidelberg.

Werk
Steinfest hat jede Menge Krimis geschrieben, in vielen davon ermittelt der Privatdetektiv Markus Cheng in Wien. Zuletzt veröffentlichte der Vielschreiber 2024 „Sprung ins Leere“, eine kunstaffine Spurensuche zwischen Wien und Japan.