„Es ist eine riesige Verantwortung, man selbst zu sein. Es ist viel einfacher, jemand anderes oder überhaupt niemand zu sein“, lautet eine dem tragikomischen Roadmovie „Jay Kelly“ vorangestelltes Zitat der US-amerikanischen Schriftstellerin Sylvia Plath. Darauf folgt eine für Regisseur Noah Baumbach („Marriage Story“) eher untypisch aufwändige Plansequenz auf einem Filmset: Die Kamera hängt sich an den Kran, folgt verschiedenen Personen und verliert sie wieder, ehe sie in einem wirklichen Kinobild zum Stillstand kommt – wir sehen George Clooney sterbend vor einer betont künstlichen, Noir-artigen Großstadtsilhouette mit Pistole in der Hand an einer Laterne lehnen und einen finalen Monolog aufsagen.

Es ist die Schlussszene des jüngsten Films von Jay Kelly, einem noch immer erfolgreichen, aber unaufhaltsam alternden Hollywood-Star. Nachdem die letzte Szene im Kasten ist, fällt der Schauspieler erst mal in ein Loch. Während seine entfremdete ältere Tochter Jessica (Riley Keough), die er einst zugunsten seiner Karriere vernachlässigt hat, in einem anderen Staat lebt, will seine jüngere Tochter (Grace Edwards) vor dem Auszug ins College noch einen längeren Trip nach Europa unternehmen. Und dann stirbt auch noch Peter Schneider (Jim Broadbent), ein Regisseur, der dem jungen Jay einst seine ersten schauspielerischen Gehversuche ermöglicht und ihn als eine Art Mentor unterstützt hat.

Jay Kelly (George Clooney) wird bei einem Filmfestival geehrt – doch tatsächlich befindet er sich in einer persönlichen Krise und an einem beruflichen Scheideweg

Netflix

Jay Kelly (George Clooney) wird bei einem Filmfestival geehrt – doch tatsächlich befindet er sich in einer persönlichen Krise und an einem beruflichen Scheideweg

Auf der Beerdigung trifft er auf seinen ehemaligen besten Freund Timothy (Billy Crudup), der früher ebenfalls Ambitionen als Schauspieler gehegt hat, mittlerweile aber als Jugendtherapeut arbeitet. Kurzentschlossen trifft er sich mit ihm auf ein paar Drinks – doch was freundschaftlich mit Speisekarten-Vorlesen als Method-Acting-Einlage beginnt, nimmt schnell einen anderen Verlauf: Timothy wirft Jay vor, ihn bewusst um seine Karriere gebracht zu haben – und schlägt ihm betrunken ins Gesicht. Die Konfrontation mit verdrängten Teilen seiner Vergangenheit stürzt Jay in eine Krise, und weder sein ständig hinter ihm her räumender Freund und Manager Ron (Adam Sandler) noch seine PR-Beraterin Liz (Laura Dern) können ihn von seinem über Nacht gefassten Plan abhalten, seiner Tochter nach Europa zu folgen, wo er außerdem bei einem Filmfestival geehrt werden soll…

Dem Zug, mit dem Kelly samt Entourage reist, bürdet Baumbach gleich mehrere Bedeutungen auf: So klappert er nicht nur Haltestellen in Frankreich und Italien ab, sondern auch verschiedene Stationen von Kellys Leben, die uns als immer etwas zu passgenau auf seine Situation anwendbare Flashbacks präsentiert werden. Zum anderen soll sich in seinen Abteilen eine Welt verdichten, zu welcher der populäre Filmstar schon seit Jahrzehnten keinen Zugang mehr hat. „Wie kann ich Menschen spielen, wenn ich die Menschen gar nicht kenne?“, fragt er sich.

Durch die Fenster im Fernzug zwischen Frankreich und Italien blickt Kelly nicht nur ins nächste Abteil, sondern auch in seine eigene Vergangenheit.

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Durch die Fenster im Fernzug zwischen Frankreich und Italien blickt Kelly nicht nur ins nächste Abteil, sondern auch in seine eigene Vergangenheit.

Begeistert nimmt Kelly also Kontakt zu den von der Präsenz des Kinohelden verwirrten Mitreisenden auf, wobei Baumbach den Waggon mit Licht flutet und zur seifigen Orchestermusik von Nicholas Britell immer wieder zwischen Clooneys glückseligem Lächeln und den „gewöhnlichen Menschen“ in der zweiten Klasse hin und her schneidert – eine kitschige Feier des Bodenständigen und vermeintlich Normalen, die vor dem Hintergrund eines sich ansonsten eher mit Reiche-Leute-Problemen beschäftigenden Films umso deplatzierter wirkt. Und während man noch hofft, der in ein deutschlandbeflaggtes Radlerdress gekleidete Lars Eidinger möge nur ein gut platzierter Running Gag sein, bekommt auch diese Figur eine unmittelbare Funktion für Kellys innere Reise zugesprochen.

Wenn es um das Verhältnis von Kino und Wirklichkeit geht, das sich als thematischer roter Faden durch die dank zahlreicher Nebenschauplätze auf 132 Minuten gestreckte Tragikomödie zieht, kommt Baumbach zu wenig erhellenden Erkenntnissen – wohl auch deshalb, weil er ein bisschen zu sehr an die Idee von Authentizität glaubt, seine Dialoge über das Wesen der Kunst aber meistens gestelzt und nach raschelnden Drehbuchseiten klingen. An vielen Stellen denkt man an Filme von Robert Altman („The Player“), Preston Sturges („Sullivans Reisen“) oder Federico Fellini („8 ½“), die Mühelosigkeit seiner Vorbilder erreicht der „Frances Ha“-Regisseur aber selten.

Gott sei Dank gibt es Adam Sandler

Und doch hat „Jay Kelly“ ein großes Plus: seine Besetzung. Da ist natürlich zum einen George Clooney in der Titelrolle, der auch mit über 60 Jahren den Charme und das Charisma von Old-Hollywood-Größen wie Cary Grant transportiert. Wenn Jay Kelly in einer Szene als „letzter der alten Filmstars“ bezeichnet wird, ist damit natürlich unweigerlich auch sein Pendant im echten Leben gemeint (noch stärker lässt Baumbach die Grenzen zwischen Star und Figur schließlich in der finalen Szene verschwimmen).

Am meisten aber profitiert der Film von Adam Sandler, mit dem Baumbach zuvor schon für den ebenfalls für Netflix produzierten „The Meyerowitz Stories“ zusammengearbeitet hat. Wie schon in „Du bist sowas von nicht zu meiner Bat-Mizwa eingeladen“ oder zuletzt „Happy Gilmore 2“ schart der Komiker auch hier Familienmitglieder wie seine Töchter Sunny und Sadie Sandler sowie Ehefrau Jackie Sandler um sich – und führt, ohne dass er etwa als Produzent an dem Film beteiligt wäre, sein von entspannter Sentimentalität und gegenseitigem Support beseeltes Alterswerk nahtlos in „Jay Kelly“ fort. Seinem Ron, der Klienten als „Puppy“ bezeichnet und der nach jahrzehntelanger Seelsorge für Jay erst wieder lernen muss, für sich selbst zu funktionieren, gehören sowohl die besten Pointen als auch die berührendsten Momente.

Fazit: Nachdem er sich mit „Weißes Rauschen“ an der Verfilmung eines Romans von Don DeLillo verhoben hat, begibt sich Regisseur Noah Baumbach wieder auf das vertraute Terrain einer starbesetzten Ensemble-Komödie über Neurosen, Selbstfindung und Vergangenheitsaufarbeitung. Dass der Film trotz mancher Länge und Drehbuchschwäche gelingt, liegt vor allem am grandiosen Zusammenspiel von George Clooney und Adam Sandler.

Wir haben „Jay Kelly“ beim Venedig Filmfest 2025 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs seine Weltpremiere gefeiert hat.