Fünf lange Tage hatte Javier Milei geschwiegen und zugeschaut, wie sich die Gerüchte, Berichte, die Ermittlungen und Hausdurchsuchungen immer weiter zu einem veritablen Skandal aufbauten, der sein Erneuererimage beschädigt. Es geht um mutmaßliche Korruptionszahlungen in Millionenhöhe an Vertraute im engsten Zirkel des rechten argentinischen Staatschefs. Und im Zentrum steht seine Schwester Karina. Sie ist Mileis wichtigste politische und persönliche Bezugsperson. Respektvoll nennt er sie nur „La Jefa“, die Chefin.
Es geht um Skandale im Gesundheitssystem und der „Staatlichen Agentur für Behinderte“ (ANDIS). Durchgesickerten Audioaufnahmen zufolge sollen von Drogerien und Laboren Schmiergelder in Höhe von acht Prozent des Auftragsvolumens verlangt werden, um an staatliche Aufträge zu gelangen. Neben Karina Milei werden Eduardo Menem, ihr engster Berater, und der Leiter der ANDIS, Diego Spagnuolo, in den Mitschnitten belastet. Der Jurist Spagnuolo ist ein alter Freund und politischer Wegbegleiter Mileis.
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Die Affäre, in der die Justiz ermittelt, trifft das Selbstbild des Sanierers und Saubermanns ins Mark. Der Wirtschaftsexperte wurde Ende 2023 gewählt, weil er versprach, die Inflation zu bekämpfen und die „Kaste“ zu beseitigen. So bezeichnet er korrupte Politiker, privilegierte Unternehmer und angeblich bestechliche Journalisten. Und im Westen, vor allem auch in Deutschland, wird der argentinische Staatschef in liberal-konservativen Kreisen und der Finanzwelt für seine Erfolge bei der Inflationsbekämpfung und der Reduzierung des Staatsdefizits sowie den großangelegten Privatisierungen gefeiert.
Experte: Die Korruptionsaffäre um Milei ein typisch argentinischer Skandal
Am Montagabend aber schlug Milei gewohnt aggressiv zurück. Ohne den Skandal mit einem Wort explizit zu erwähnen, warf er bei einer Wahlveranstaltung in der Stadt Junín in der Provinz Buenos Aires seiner linken Vorgängerin Cristina Kirchner vor, ihn und seine Regierung beschädigen zu wollen. „Der Kirchnerismus sät offen und unverhohlen Chaos und Instabilität“, behauptete er. Sie hätten das Land in den Ruin gewirtschaftet und „sollen verschwinden“. An seine Schwester gewandt rief er nur: „Danke Chefin“.
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Mileis Äußerungen folgten derselben Linie, die seit Anfang der Woche hochrangige Regierungsbeamte vertreten. Die an einem TV-Kanal durchgesteckten Gesprächsmitschnitte seien „eine plumpe politische Operation des Kirchnerismus“, die darauf abziele, Mileis Partei „La Libertad Avanza“ im Wahlkampf für die Parlamentswahlen Ende Oktober zu schaden. Da stehen für den Ultraliberalen viele seiner Gesetzesprojekte auf dem Spiel. Bisher verfügt seine Partei im Kongress nur über eine Minderheit der Sitze. Umfragen vor dem Skandal sagten für „La Libertad Avanza“ eine deutliche Zunahme voraus. Sie wird durch den Skandal nun gefährdet.
Am Dienstag bewarfen Unbekannte den Staatschef bei einer Wahlkampfveranstaltung mit Steinen und anderen Gegenständen. Er blieb unverletzt. Regierungsvertreter machten Anhänger des „Kirchnerismus“ für den Angriff verantwortlich. Vor der Attacke hatte sich Milei erstmals ausdrücklich auf den Skandal bezogen und ANDIS-Direktor Spagnuolo der Falschaussage bezichtigt. „Alles, was er sagt, ist Lüge. Wir werden ihn vor Gericht bringen”, sagte Milei.
Am Dienstag wurden Javier Milei und seine Schwester Karina bei einer Wahlkampfveranstaltung mit Steinen beworfen.
© Natacha Pisarenko/AP/dpa | Natacha Pisarenko
Die Korruptionsaffäre sei in gewisser Weise ein typisch argentinischer Skandal, sagt der Experte Edgardo Buscaglia. „Bestechung bei öffentlichen Aufträgen hat es unter allen Regierungen gegeben.“ Aber gerade wegen seines verbalen Kampfes gegen die Korruption seien viele Anhänger enttäuscht, was sich auf die Wahlen auswirken werde, betont der internationale Berater im Bereich der Korruptionsbekämpfung und Lehrbeauftragter an der New Yorker Columbia University im Gespräch mit dieser Zeitung. „Vor allem wenn die Inflation wieder anzieht, wird seine Unterstützung sinken.“ Bleibe die Wirtschaft auf Aufschwungskurs, werde der Skandal hingegen verpuffen.
Milei hat Argentinien makrowirtschaftlich in die Spur gebracht
Die Affäre um die Schmiergeldzahlungen trifft die Regierung tatsächlich in dem Moment, in dem es erste Anzeichen für ein Ende der Milei-Festspiele gibt. Nachdem es ihm gelungen war, in seinen 21 Monaten im Amt die Teuerung drastisch zu drücken und den Peso zu stabilisieren, sackt die argentinische Währung in den vergangenen Wochen regelrecht durch. Der Wertverlust von fast einem Drittel zum US-Dollar in diesem Jahr bringt den Peso nahe an sein historisches Tief von Ende Juli. Bereits seit zwei Monaten durchlebt das südamerikanische Land wirtschaftliche Turbulenzen mit Zinsschwankungen, stagnierendem Wachstum und der Währung im Abschwung. Und die Korruptionsermittlungen erschüttern laut Marktbeobachtern weiter die Stabilität.
Mileis Regierung hat Argentinien makrowirtschaftlich wieder in die Spur gebracht, aber die Kosten spüren Rentner, denen die Pensionen eingefroren wurden, und die sozial Schwachen und Millionen Arme, denen staatliche Leistungen gestrichen wurden. „Das Milei-Modell ist sozial und wirtschaftlich langfristig unhaltbar und unsozial“, kritisiert Experte Buscaglia. „Es ist ein explosiver Cocktail.“ Der Präsident komme nicht umhin, schon bald umzusteuern.
Zudem frönt seine Regierung dem Kulturkampf und Geschichtsrevisionismus ultrarechter Prägung. Milei baut Förderungen für Kunst und Kultur ab, schließt Einrichtungen, nimmt öffentlichen Universitäten die Gelder. Er beschneidet das staatliche Gesundheitssystem, für das Argentinien über Lateinamerika hinaus gelobt wurde. „Meine Verachtung für den Staat ist grenzenlos“ ist einer von Mileis zentralen Leitsätzen.
Hauptstadt Inside von Jörg Quoos, Chefredakteur der FUNKE Zentralredaktion
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Zudem versucht er, die Militärdiktatur (1976 bis 1983) umzudeuten, indem er die Militärs zu Opfern und Rettern des Landes stilisiert, die Argentinien vor dem Untergang und dem Kommunismus gerettet hätten. Auch hier streicht er Gelder für Erinnerungsstätten zusammen. Das Übrige leistet sein Diskurs eines Hasspredigers.