Es geht um eine Zahl mit elf Nullen: Auf 1,2 Billionen Euro drohen sich die Kosten für die Stromnetze und andere Energienetze in Deutschland bis zur Mitte des Jahrhunderts zu summieren, wenn das Land seine bisherige Energiepolitik fortsetzt. Das ist jedenfalls nach Informationen der F.A.S. das Ergebnis einer brisanten neuen Kalkulation im Auftrag des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK). Die Horrorzahl ist Teil einer umfassenden Studie zur Energiewende, die der DIHK nächste Woche vorstellt. Der Verband vertritt die Interessen rund vier Millionen deutscher Firmen vom Kiosk bis zum Dax-Konzern.

Die Analyse der Beratungsgesellschaft Frontier Economics zeigt zudem, dass rund die Hälfte der Kosten für die Energienetze – also rund 600 Milliarden Euro – bereits in den kommenden zehn Jahren anfallen. Seit 2010 hätten sich die Kosten für den Ausbau und Betrieb der Energienetze in Deutschland bereits verdoppelt. Um die Klimaziele der Bundesregierung zu erreichen, müssten die Investitionen in die deutschen Energienetze bis 2035 gegenüber heute abermals verdoppelt werden, so die Studienautoren.

„Alle Einsparpotentiale nutzen“

DIHK-Präsident Peter Adrian schlägt angesichts der neuen Kostenschätzung Alarm. Er fordert ein Umsteuern in der Energiewende: „Wir müssen alle Einsparpotentiale jetzt nutzen“, sagte Adrian, im Hauptberuf Chef eines Immobilienunternehmens in Trier, der F.AS. „Die Unternehmen leiden bereits heute unter extrem hohen Energiepreisen“, beklagt der DIHK-Präsident. Sechs von zehn großen Industrieunternehmen hätten konkrete Pläne, ihre Produktion in Deutschland einzuschränken, oder hätten dies bereits getan. „Wenn die Netzkosten und damit auch die Energiepreise weiter steigen, ist die Belastungsgrenze endgültig erreicht“, befürchtet Adrian.

Die Kosten für den Bau und Betrieb der Netze sind über die Netzentgelte Teil der Strom- und Gasrechnung von privaten Haushalten und Unternehmen. Im Durchschnitt machen die Netzentgelte laut DIHK aktuell bereits knapp ein Drittel der Stromkosten von Unternehmen aus. Geplante Zuschüsse der Bundesregierung zu den Netzentgelten brächten kurzfristig Entlastung, seien aber keine dauerhafte Lösung, sagt Adrian.

Großer Ausbaubedarf

Die Strom- und Gasnetze müssen für die Energiewende grundlegend um- und ausgebaut werden. Vor allem das Stromnetz muss verstärkt werden, weil die klimaschädlichen fossilen Brennstoffe Öl und Gas durch erneuerbaren Strom ersetzt werden, etwa für den Betrieb von Wärmepumpen und Elektroautos.

Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche will die Energiewende billiger machen. Die CDU-Politikerin hat ebenfalls ein Gutachten in Auftrag gegeben, das demnächst vorliegen soll. „Wir müssen die Stromsystemkosten deutlich absenken. Klimaschutz, Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit müssen ein gemeinsames Ziel sein“, sagte Reiche im Juli.

Es gibt aber auch Befürchtungen, dass die Wirtschaftsministerin mit ihrem Sparkurs den Klimaschutz gefährdet. Nina Scheer, Energie-Fraktionssprecherin des Berliner Koalitionspartners SPD, warf Reiche vor, sie wolle die erneuerbaren Energien „ausbremsen“. Bedenken gibt es auch in der Energiewirtschaft. Zwar seien große Kostensenkungen möglich, aber Deutschland müsse in der Energiewende weiter Tempo machen, mahnt Stefan Dohler, Präsident des Verbands der Energie- und Wasserwirtschaft. „Jetzt auf die Bremse zu treten, wäre ganz schlecht“, sagte er vergangene Woche der F.A.S.

Mehr importierter Wasserstoff?

Die neue Studie des DIHK dürfte die Debatte nun weiter anheizen. Die billionenschwere Kostenschätzung für die Energienetze von Frontier Economics erscheint viel höher als andere Prognosen. So kalkuliert zum Beispiel der Netzentwicklungsplan der Bundesnetzagentur aktuell mit Investitionen in die Stromübertragungs- und Verteilnetze von knapp 530 Milliarden Euro bis 2045. Auf die Stromnetze entfällt der mit Abstand größte Teil der Kosten für die Energienetze.

Die viel höhere Kostenschätzung von 1,2 Billionen Euro in der neuen DIHK-Studie erklärt sich allerdings auch dadurch, dass die Autoren nicht nur Investitionen, sondern auch Betriebskosten der Netze einrechnen. Und Letztere fallen laut Frontier Economics stark ins Gewicht: Bis Mitte des Jahrhunderts entfielen auf den Betrieb der Energienetze insgesamt rund 40 Prozent der Gesamtkosten – also knapp eine halbe Billion Euro, wenn die Politik nicht umsteuere. Denn die Stromnetze, auf denen die Energiewende großteils aufbaue, seien technisch komplexer als Gasnetze, Betrieb und Wartung seien deshalb teurer.

Und was schlägt der DIHK vor, um die befürchtete Kostenexplosion einzudämmen? „Ein zentraler Hebel ist die Weiternutzung bestehender Infrastruktur“, sagt Präsident Adrian. Er wirbt dafür, außer auf Strom stärker als bisher vorgesehen auf klimaschonenden Wasserstoff zu setzen, der „in vorhandenen Erdgasnetzen“ transportiert werden könne. Auch ein stärkerer Import von Wasserstoff aus dem Ausland dämpfe den Ausbaubedarf. Neue Stromleitungen sollten zudem stärker über- statt unterirdisch verlegt werden. Insgesamt ließen sich die Stromnetzinvestitionen um 135 Milliarden Euro senken, schätzen die Autoren der Studie.

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