Ihren ersten Oscar gewann Julia Roberts 2001 für „Erin Brockovich“ – in der Rolle einer alleinerziehenden Rechtsanwaltsgehilfin, die im Rahmen einer Sammelklage auch ohne juristische Ausbildung in den Kampf gegen ein scheinbar übermächtiges Energieunternehmen zieht. Eine Heldin, wie sie im Buche steht, dazu basierend auf einem realen Vorbild: Solche Rollen kommen bei Oscar-Wähler*innen besonders gut an – schließlich stimmen sie so nicht nur für eine schauspielerische Leistung, sondern zugleich auch für die lobenswerten Taten der Protagonistin. Exakt ein Vierteljahrhundert `wurde die einst meistverdienende Schauspielerin der Welt im Vorfeld ihres neuesten Films erneut als aussichtsreichste Kandidatin für einen weiteren Oscar als Beste Hauptdarstellerin gehandelt …

… allerdings müsste sie sich diesmal wohl allein auf die Würdigung ihres Talents verlassen, denn ihre durch und durch ambivalente Figur aus „After The Hunt“ möchte man eher nicht rückhaltlos unterstützen. Auf dem amerikanischen Poster steht ganz oben „Not everything is supposed to make you comfortable“ (sinngemäß übersetzt: „Nicht alles ist dafür da, damit du dich wohlfühlst“). Gerichtet ist dieser Slogan vordergründig an eine (vermeintlich) zu verweichlichte und selbstbezogene Generation von Student*innen an den amerikanischen Elite-Universitäten. Zugleich darf man das aber auch als Warnung an potenzielle Kinogänger*innen verstehen, denn „Challengers“-Regisseur Luca Guadagnino legt es garantiert nicht darauf an, es irgendjemandem besonders leicht oder gar recht zu machen.

Alma (Julia Roberts) und ihr Professoren-Kollege Hank (Andrew Garfield) pflegen einen durchaus vertrauten bis intimen Umgang miteinander – bis die Vergewaltigungsvorwürfe einen Keil zwischen sie treiben.

Sony

Alma (Julia Roberts) und ihr Professoren-Kollege Hank (Andrew Garfield) pflegen einen durchaus vertrauten bis intimen Umgang miteinander – bis die Vergewaltigungsvorwürfe einen Keil zwischen sie treiben.

Alma Olsson (Julia Roberts) ist Philosophieprofessorin an der Eliteuniversität Yale – und steht kurz davor, endlich die lang ersehnte Professur auf Lebenszeit zu erhalten. Aber dann steht eines Nachts plötzlich ihre heulende Doktorandin Maggie Price („The Bear“-Star Ayo Edebiri) bei ihr im Hausflur – und berichtet davon, wie sie im Anschluss an eine Party bei Alma von deren Kollegen Hank Gibson (Andrew Garfield) nicht nur nach Hause gebracht, sondern dort auch sexuell attackiert wurde.

Statt ihrer Studentin sofort alle denkbare Unterstützung zuzusichern, zögert die Professorin allerdings – und zwar weniger, weil sie Maggie nicht glaubt, sondern vor allem, um sich so kurz vor dem Ziel jetzt noch selbst alles kaputt zu machen. Außerdem scheint ein Ereignis aus Almas Jugend, das sie trotz ihres Psychotherapeuten-Ehemanns Frederik (Michael Stuhlbarg) offenbar noch immer nicht verarbeitet hat, ebenfalls eine zentrale Bedeutung bei ihren Handlungen zu spielen…

So erwachsen ist Kino selten

Auf dem deutschen Poster wurde der bereits erwähnte, tatsächlich schwer zu übersetzende Slogan durch die simple Thriller-Tagline „Wer sagt die Wahrheit“ ersetzt. Aber auch wenn diese Frage aufgrund der gegensätzlichen Erzählungen von Maggie und Hank natürlich im Raum steht, ist sie nicht nur ungleich generischer, sie geht auch am eigentlichen Thema vorbei: „After The Hunt“ ist zwar über weite Strecken spannend wie ein Psychothriller, aber das nicht wegen der Suche nach einer eventuellen Wahrheit, sondern weil die durchweg in Graubereichen wandelnden Figuren so unfassbar packend geraten sind.

Alma wirkt für eine Kinoprotagonistin sogar lange Zeit erstaunlich passiv, wenn sie sich nur in keiner der Richtungen zu weit aus dem Fenster lehnen will. Aber was schon für so manchen Film das Ende bedeutete, wird dank der thronenden Performance von Julia Roberts zum Ereignis. Wenn sie ihre Studentin dann später doch einmal lautstark die Meinung geigt, dass diese ja nur mit einer nicht-binären Person zusammen sei, um sich selbst interessanter zu machen, stockt einem regelrecht der Atem. Hat das ausgerechnet die nun nicht gerade für ihre provozierenden Rollen bekannte Julia Roberts gerade wirklich gesagt? Inzwischen fast automatisch denkt man zumindest kurz darüber nach, ob der universal-beliebte „Pretty Woman“-Star jetzt nicht womöglich gecancelt werden müsste.

Luca Guadagnino und sein Kameramann Malik Hassan Sayeed wählen immer wieder auch ungewohnte Bildausschnitte für „After The Hunt“.

Sony

Luca Guadagnino und sein Kameramann Malik Hassan Sayeed wählen immer wieder auch ungewohnte Bildausschnitte für „After The Hunt“.

Aber dann müsste man Luca Guadagnino („Suspiria“, „Queer“) und Nora Garrett, die bisher als Schauspielerin gearbeitet hat und jetzt ihr Debüt als Drehbuchautorin vorlegt, wohl gleich mit abräumen – und das ist in diesem Fall sehr wohl als Lob gemeint: „After The Hunt“ basiert nicht auf einem konkreten Fall, sondern auf generellen Reflexionen über akademische Macht und die #MeToo-Kultur. Dabei analysiert das Duo den Unibetrieb von der Hochzeit der Safe Spaces bis – nach einem späten Zeitsprung – zur ruckartigen Gegenbewegung zu Beginn der zweiten Amtszeit von Präsident Donald Trump mit großer Klarsicht, aber ohne – oder zumindest ohne leicht zu entschlüsselnde – Agenda.

Völlig befreit von der Angst, direkt allen Seiten vor den Kopf zu stoßen, begegnen sie den festgefahrenen Echokammer-Debatten in den Kommentarspalten mit erwachsenen, beschädigten, vielschichtigen Figuren, die einen immer wieder aufs Neue herausfordern. Wirklich niemand ist hier ein offensichtlicher Sympathieträger oder eine offensichtliche Sympathieträgerin: Selbst Michael Stuhlbarg, der hier nach dem perfekten Vater in „Call Me By Your Name“ einen offenbar perfekten Ehemann spielt, der seiner Frau jeden Morgen direkt zwei Tabletten gegen den Kater auf den Nachtisch legt, erweist sich irgendwann als eifersüchtiger Gockel, der statt zu krähen seine klassische Musik bis zum Anschlag aufdreht.

Fazit: Ein gnadenlos brodelndes Drama mit derart unbequemen, widerborstigen und vielschichtigen Figuren, wie man sie im Mainstream-Starkino seit den Siebzigerjahren kaum noch erlebt – oft mindestens so spannend wie ein Thriller, lässt einen „After The Hunt“ selbst mit dem Einsetzen des Abspanns noch lange nicht los.

Wir haben „After The Hunt“ beim Venedig Filmfestival 2025 gesehen, wo er außer Konkurrenz seine Weltpremiere gefeiert hat.