1. Startseite
  2. Politik

DruckenTeilen

Zehn Jahre nach Merkels berühmtem Ausspruch zieht Migrationsforscher Schammann Bilanz – und warnt vor hastigem Aktionismus in der aktuellen Politik.

Berlin – Meistens sind es die kurzen Sätze, die in die Geschichte eingehen. Helmut Kohl hatte sein „Entscheidend ist, was hinten rauskommt“, Barack Obama sein „Yes, we can“. Und mit Angela Merkel wird man wohl für immer den Satz „Wir schaffen das“ verknüpfen.

Vor ziemlich genau zehn Jahren, am 31. August 2015, sagte die damalige Bundeskanzlerin diese drei Worte in der sogenannten Sommerpressekonferenz in Berlin als Teil einer längeren Antwort zum großen Thema des damaligen Sommers: die Aufnahme von Geflüchteten. Der Satz prägte die Migrationspolitik der folgenden Jahre – und das, was man heute Willkommenskultur nennt. Gleichzeitig ist „Wir schaffen das“ hochumstritten, Kritiker sagen: Merkel hat es sich angesichts der Herausforderungen damit zu einfach gemacht. Und manche Migrationsskeptiker triggert der Ausspruch bis heute zu Hasstiraden.

Hannes Schammann glaubt: In dem Merkel-Zitat steckt vor allem ein großes Missverständnis. Schammann ist Mitglied im Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) und Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Migrationspolitik an der Universität Hildesheim. Im Interview mit der Frankfurter Rundschau von IPPEN.MEDIA erklärt er, was wir heute aus „Wir schaffen das“ lernen können – und welchen grundlegenden Fehler in der Migrationspolitik auch die Merz-Regierung nun macht.

Vor zehn Jahren sagte Angela Merkel den berühmten Satz: „Wir schaffen das“. Hatte sie recht, Herr Schammann?

Es kommt darauf an, was dieses „das“ ist. Damals ging es ganz pragmatisch um die Frage: Schaffen wir die Aufnahme und Unterbringung der Menschen, die über die Balkanroute nach Deutschland kommen? Und das haben wir geschafft. 

Aber nicht reibungslos, oder? 

Es hat geruckelt, es gab Überforderungserscheinungen beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, aber Kommunen, Verwaltung und Zivilgesellschaft haben schnell zusammengefunden. Unsere Studien zeigen: Die Unterbringung war selbst in kritischen Phasen keine flächendeckende Überforderung mehr. Und die Aufnahme der Geflüchteten aus der Ukraine hat gezeigt: Man hat massiv aus 2015 gelernt. 

Zehn Jahre „Wir schaffen das“: Probleme in überfüllten Flüchtlingsunterkünften

Immer wieder gab es Probleme in überfüllten Unterkünften. 

Das stimmt. In der Rückschau sieht man: Wir hatten nur lokal und zeitlich begrenzt Unterbringungskrisen, aber dafür eine massive Auszugskrise. 

Was heißt das?

Menschen fanden keine Wohnungen und blieben deshalb länger in Sammelunterkünften. Das hat aber weniger mit Migrationspolitik zu tun, sondern zeigt auf ein anderes strukturelles Problem, nämlich den ausbleibenden sozialen Wohnungsbau. Der betrifft aber ja nicht nur Migranten.

Wie steht es heute mit der Integration der Menschen, die damals gekommen sind? 

Bei der langfristigen Integration gibt es teilweise noch Luft nach oben. Aber das ist normal. Integrationsprozesse sind Generationenaufgaben. Und wir sehen: Das deutsche Modell, also erst die Sprache lernen, dann der Arbeitsmarkteintritt, wurde zwar viel kritisiert, könnte aber langfristig gut funktionieren. Denn der Spracherwerb bringt Menschen potenziell in höherwertige Jobs.

Merkel veröffentlicht Memoiren: Bilder ihrer wichtigsten Momente als PolitikerinBundestagspräsident Norbert Lammert (GER/CDU) vereidigt Dr. Angela Merkel (GER/CDU) zur Bundeskanzlerin im Deutschen BuFotostrecke ansehen

Also plädieren Sie für mehr Geduld? 

Ja, aber das bedeutet nicht, dass man nichts tun muss. Wir müssen unbequeme Diskussionen führen, evaluieren, welche Maßnahmen sinnvoll sind und welche nicht. Stattdessen bemerke ich in der Politik hastige Maßnahmen und Aktionismus: Strukturen werden abgebaut, weil es gerade weniger Zuwanderung gibt, Beauftragtenstellen werden gestrichen, Unterkunftspläne gestoppt. Das ist gefährlich. 

Wieso?

Weil Fluchtbewegungen immer schwanken. Wir brauchen ein atmendes System, das flexibel hoch- und herunterfahrbar ist. Denn wir können Migration nicht komplett steuern.

AfD vermarktet Merkels Satz als absurde Äußerung

Heute hat der Satz „Wir schaffen das“ für manche eine negative Konnotation. Woran liegt das? 

Weil er, teilweise auch bewusst, missverstanden wurde. Der Satz bezog sich auf das Management der akuten Situation. Aber von rechtspopulistischer Seite, vor allem der AfD, wurde der Satz als absurde Äußerung einer volksfernen Elite vermarktet. Dazu beigetragen hat sicherlich, dass die Bundesregierung nicht mutig genug kommuniziert hat. 

Was meinen Sie genau?

Der Hauptgrund dafür, dass die Kanzlerin damals so entschieden hat, war ja nicht, dass sie plötzlich die Pfarrerstochter in sich entdeckt hat. Sondern der Druck auf der Balkanroute war so groß, dass das Dublin-System womöglich zusammengebrochen wäre. Sie hätte klar sagen sollen: Es gibt keine andere Wahl, wenn wir nicht massiv Gewalt an den deutschen Grenzen einsetzen wollen. Diese Ohnmacht der Politik hat man nicht zugegeben – damals wie heute nicht. 

Inwiefern? 

Ein großer Fehler 2015 war, so zu tun, als könnte man es perfekt hinbekommen. Und auch heute wird die große Migrationswende versprochen. Und dann kommen symbolische Maßnahmen wie Grenzschließungen und Abweisungen von Asylsuchenden. Als Politiker einer liberalen Demokratie muss man sich aber eingestehen: Migration ist nur eingeschränkt steuerbar

Neuer Newsletter „Unterm Strich“

Was? Exklusive Einblicke in den Politik-Betrieb, Interviews und Analysen – von unseren Experten der Agenda-Redaktion von IPPEN.MEDIA

Wann? Jeden Freitag

Für wen? Alle, die sich für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft interessieren

Wo? Direkt in ihrem E-Mail-Postfach

Wie? Nach einer kurzen Registrierung bei unserem Medien-Login USER.ID hier kostenlos für den Newsletter anmelden

Ein Kipppunkt damals dürfte aber auch die Silvesternacht 2015 in Köln gewesen sein, oder?

Für die Stimmung sicherlich. Die Verknüpfung von Sicherheit und Migration ist uralt. Doch wenn wir uns nur auf Sicherheit fokussieren, wird es erst recht gefährlich. Dann diskutierten wir viel über Abschiebungen, weniger über systemische Schwächen wie dysfunktionale Gesetze oder langwierige behördliche Abläufe. Panik vernebelt unseren Blick.

Jetzt gehen die Asylbewerberzahlen zurück. Müsste Innenminister Alexander Dobrindt seine härtere Gangart nicht herunterschrauben?

Wenn der Rückgang auf seine Maßnahmen zurückzuführen wäre, dann ja. Aber das ist unklar. Die Zahlen gingen europaweit schon runter, bevor die Kontrollen eingeführt wurden. Die Frage ist: Geht es Dobrindt um wirkliche Lösungen oder um das Spektakel an der Grenze, mit dem er staatliche Handlungsfähigkeit demonstrieren will?

Was glauben Sie? 

Die Diskussion hat sich längst entkoppelt von der Wirkung konkreter Maßnahmen. Das Kalkül, die AfD mit einer harten Migrationspolitik zu verhindern, geht leider nicht auf. Selbst wenn die Zahlen zurückgehen, bleibt die AfD populär. Wir müssen daher eine umfassendere Debatte über soziale Problemlagen führen. Über marode Schulen, mickrige Renten und die Zukunft der Demokratie. Migrationspolitik ist da nur ein recht kleines Feld.