Eigentlich ist es ja schon Tanja Paars viertes Buch, das jetzt erscheint, es hat das dritte überholt. Gleich mit ihrem Debüt, „Die Unversehrten“, hat die in Graz geborene und aufgewachsene Schriftstellerin einen großen Erfolg gefeiert. Der nächste Roman, „Die zitternde Welt“, erschien im Herbst 2020, während der Coronapandemie. Es konnten keine Lesungen gemacht werden, das war kein guter Start. Jetzt aber wurde das Buch ins Englische übersetzt, darüber freut sich Tanja Paar besonders.

Gott sei Dank, sagt sie, gibt es noch reale Übersetzer und Übersetzerinnen, denn Übersetzungen sind teuer. Diese jedenfalls hat mehr gekostet, als die Autorin selbst mit dem Buch verdient hat. Da seien die Begehrlichkeiten für Verlage groß, die Texte von künstlicher Intelligenz in die gewünschten Sprachen übertragen zu lassen. Was natürlich nicht die gleiche Qualität hat.

Für ihren dritten Roman hat Paar den renommierten Robert-Gernhardt-Preis bekommen – dabei ist das Buch noch gar nicht erschienen: Der Residenz-Verlag wollte das Buch über den Semmering zuerst herausbringen.

Lesen lernen mit Karl May

Es basiert auf der Geschichte von Paars Großeltern, Klara und Bertl. Mit den beiden ist sie aufgewachsen, sie hat in Graz in einer Drei-Generationen-Familie gelebt. Und der Großvater war es, der sie als junges Mädchen zur Literatur gebracht hat. Heute noch weiß Paar die Nummer ihres Bibliotheksausweises. Einmal in der Woche wurden neue Werke abgeholt, denn ständig Bücher zu kaufen – das hätte zu viel gekostet. Dass sie statt mit Kinderbüchern mit zahlreichen Karl-May-Bänden lesen gelernt habe, könne man vielleicht in ihrem Roman „Die zitternde Welt“ erkennen, sagt sie.

„Am Semmering“ wird aus der Perspektive von Klara erzählt – einer selbstbewussten jungen Frau, die weiß, was sie will. Ihr Vater ist als tschechischer Flickschuster nach Wien gekommen, auch die Mutter stammt aus kleinbürgerlichem Milieu. Zu Hause wird Tschechisch gesprochen. Obwohl die Wohnung, in der die drei leben, winzig ist – der Vater repariert die Schuhe auf dem Küchentisch –, kann Klara Klavier spielen.

Zur Person

Tanja Paar studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie und hospitierte am Grazer Schauspielhaus. Dann schrieb sie für Magazine und bei Tageszeitungen. Ihr Debüt erschien 2019. Für „Am Semmering“ erhielt sie das Elias-Canetti-Stipendium. Der Roman erscheint am 1. September und wird am 16. Oktober im Literaturhaus Wien präsentiert.

Dann lernt sie Bertl kennen – einen Wagenputzer bei der Eisenbahn. Der „hat sich dann eben hinaufgeputzt und hinaufgelernt“, wie Paar erzählt. Das entspricht den Tatsachen, der Großvater war zum Schluss Fahrdienstleiter in Graz. Dennoch ist der Roman fiktiv, vieles dazuerfunden. „Es ist wie ein Gemälde von Picasso – alles ineinander verschnitten.“ Das Buch beginnt, als Bertl Bahnwärter auf dem Semmering ist, eine wichtige Position. Das Ehepaar ist stolz auf die kleine Wohnung mit dem Gärtchen, in dem ein wenig Gemüse angebaut wird. Auch ein Zwetschkenbaum steht dort und liefert im Herbst saftige Früchte. Dieses Häuschen hat Tanja Paar selbst besichtigt. Es ist nicht zugänglich, weil es den Bewohnern vorbehalten ist, aber Paar durfte es sich anschauen – auch den Platz, an dem der Zwetschkenbaum gestanden ist. Und wenn sie mit dem Zug über den Semmering fährt – Tanja Paar ist eisenbahn­affin –, dann weiß sie genau, auf welcher Seite sie sitzen muss, damit sie das kleine Haus sieht.

Der Roman schildert die Geschichte von der Zwischenkriegszeit bis 1945, als sich die Menschen im Ort vor den ankommenden russischen Besatzern fürchten. Ein politisches Buch also, das den aufkommenden Nationalsozialismus thematisiert, weshalb Paar auch dafür ein Stipendium bekommen hat – in Form eines Aufenthalts im Brecht-Haus in Berlin. Dort wurden in einer sehr kleinen Gruppe die Texte der Teilnehmenden besprochen. Sehr hilfreich für Paar, so konnte sie erkennen, ob der Roman auch in Deutschland verstanden wird. Den Semmering kannten die anderen fünf Autoren und Autorinnen jedenfalls nicht.

Der Semmering als Mikrokosmos

Der Semmering, sagt Tanja Paar, sei ein besonderer Ort, weil sich dort so vieles auf kleinem Raum abgespielt hat. Klara und Bertl haben Leute kennengelernt, die sie in Wien niemals getroffen hätten – Reiche, ehemals Adelige, Intellektuelle, Künstler und Künstlerinnen, die im noblen Hotel Panhans oder im Südbahnhotel residiert haben. Manche von ihnen kommen auch im Roman vor, zu Beginn etwa werden Alma Mahler-Werfel und ihr Kurzzeitschwiegersohn Ernst Krenek erwähnt. Später kommt der Fabrikant Khuner vor, der sich eine Villa von Adolf Loos hat bauen lassen.

Neben all den Berühmtheiten wird der Semmering aber von einer anderen, unbekannten Seite geschildert: aus der Sicht der kleinen Leute, der Bauern, Handwerker und ja, der Eisenbahner.

Schwierig sei die zeitliche Eingrenzung gewesen, sagt Tanja Paar. Sie habe sich schließlich für die Jahre von 1928 bis 1945 entschieden, weil da so viel geschehen sei, was auch heute relevant sei. Erschreckt hat sie, „wie leicht es möglich war, das Parlament auszuschalten, dann andere Parteien und Institutionen, wie schnell es ging, tatsächlich den Staat komplett umzubauen“. Als junge Frau war sie überzeugt, das könnte nie mehr passieren. Heute sieht sie das anders.