Wer in Leipzig Kinder hat, kommt um den Kontakt mit dem Amt für Jugend und Familie kaum herum. Ob es Kita-Plätze, Elterngeld oder Hilfe bei Problemlagen betrifft, sogar das BAföG außerhalb des Hochschulbereichs, das Amt ist für vieles zuständig. Nicht erst mit der Zunahme von Kindern mit migrantischem Hintergrund sind die Aufgaben und die finanziellen Aufwendungen ständig angewachsen, in Zeiten klammer Kassen wächst auch hier der Ruf nach Sparsamkeit.
2021 wurde das Amt für Jugend, Familie und Bildung geteilt in Amt für Jugend und Familie und Amt für Schule, 2022 trennte sich die Stadt Leipzig von Amtsleiter Dr. Nicolas Tsapos und setzte Silko Kamphausen als kommissarischen Amtsleiter ein.
Dieser übergab die Stelle im September 2023 an Felix Sauerbrey, der das Amt, ebenfalls kommissarisch, bis zur Übernahme durch die neue Amtsleiterin Manuela Kastrup im Februar 2024, führte. Nach drei Monaten schied Frau Kastrup wieder aus und Silko Kamphausen führt seitdem, im Tandem mit Felix Sauerbrey, das Amt erneut kommissarisch. Wir trafen ihn zum Gespräch in den neuen Amtsräumen auf der Alten Messe.
Organigramm AJF September 2024, Screenshot LZ
Herr Kamphausen, Sie sind kommissarischer Leiter des Amtes für Jugend und Familie und gleichzeitig noch Betriebsleiter KEE, also des kommunalen Eigenbetriebs Engelsdorf. Zuerst die Frage, wie geht es Ihnen damit, diese zwei Jobs zu haben? Wie lebt man damit? Wie schafft man das alles?
Mir geht’s tatsächlich nach einem Jahr gut, wenngleich wenig Schlaf und noch vollerer Tage, gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Situation, meinen Alltag prägen, meinen Alltag prägen. Jedoch: das sucht man sich ja freiwillig aus, mich hat niemand zu dieser Aufgabe gezwungen. Insofern glaube ich, dass ich auch von den langjährigen Erfahrungen aus dem Wirtschaftsdezernat und dem kommunalen Umfeld, insbesondere jetzt auch im Jugend- und Schuldezernat sehr gut profitieren kann. Es lohnt jeden Tag für die Kinder unserer Stadt.
Sie sind ja schon zum zweiten Mal kommissarischer Leiter des Amtes für Jugend und Familie. Gibt es denn eine Perspektive, dass sich das mal ändert?
Auch eine Nichtentscheidung ist für mich eine Entscheidung, manchmal eine bewusste. Und sagen wir mal so, ich glaube, wenn ich spüren würde, dass der Veränderungsdruck und -wille tatsächlich nicht nachhaltig wäre, sowohl in der Politik, in der Gesellschaft, als auch in der Verwaltung selbst, dann würde ich mich entscheiden, es nicht weiterzumachen und auf bessere Gelegenheiten warten. Ich bin nicht angetreten, um den Status Quo oder einen Mangel zu verwalten. Ich brauche ein Umfeld, in welchem die Ergebnisse und auch ich wachsen können und keines, was mich klein hält.
Wir haben andernorts so viele offene Positionen bzw. Amtierungen innerhalb der Stadtverwaltung, wir müssen im Jugenddezernat nicht immer die ersten sein. Möglicherweise gibt es ja auch andere Stellen, die vorrangig zu besetzen sind. Wir warten die Entwicklungen zunächst ab. Wir werden sehen. Kein Druck.
Im Moment bestimmt der Doppelhaushalt alle Diskussionen. Das Amt Jugend und Familie, ist ein sehr großer Haushaltsposten, besonders im Bereich Kinder- und Jugendhilfe, sowohl finanziell als auch personeller. Gibt es da Ambitionen, dort etwas zu beschneiden?
Grundsätzlich muss man sagen, die Sozialausgaben in der Stadt Leipzig steigen für alle Bereiche und skalpieren durch die fehlende Kostenbeteiligung des Bundes und des Landes unsere kommunale Selbstverwaltung. Ich weiß, dass wir seit 2023 im Jugendamt zumindest auf einem sehr guten Weg sind. Machen wir das an zwei Zahlen fest.
Die Sozialausgaben steigen linear um 9- 10 % pro Jahr in Leipzig, im Jugendamt nur noch um 5 % und konsolidiert sich durch aktive Steuerung und Strategien. Die stationären Fälle, bei denen die Kinder dauerhaft außerhalb der Familie untergebracht sind, sanken im gleichen Zeitraum um 10 % und der ambulante Bereich, also der familienerhaltende und zugleich kostengünstigere Bereich stieg um 19 %. In zwei Jahren und durch Konzepte.
Es ist so, dass bei den Leistungen die im SGB VIII stehen, das Konnexitätsprinzip nicht funktioniert. Das sind Bundesleistungen, die wir hier auf kommunaler Ebene für unsere Familien erbringen. Wir bekommen jedoch keine Refinanzierung, keine Kostenerstattung. Jedes Umsetzungsgesetz wird im Gegenteil noch vergoldet.
Das führt natürlich dazu, wenn wir über Einsparungen dieser Größenordnung reden, wir sprechen ja nicht nur über 5 oder 10 Millionen, dass natürlich der Sozialbereich immer wieder erneut in den Fokus gerät. Dazu gehört auch die Kinder- und Jugendhilfe. Kommunalpolitik müsste ggf. irgendwann ohne Gegensteuerung durch uns alle zwischen Kultur, Jugendhilfe oder Wirtschaftsförderung entscheiden oder wir bleiben nun aktiv.
Kinder und Jugendliche unterliegen immer, trotz der notwendigen Investition in die Zukunft, bedauerlicherweise der haushalterischen Gegenwartsdebatte. Haushalte sind ja immer für die Gegenwart gemacht und Kinder und Jugendliche haben keine klassische Lobby.
Das sind keine Wählerinnen und Wähler und es geht im politischen Betrieb um Mehrheiten, nicht zwangsläufig um Wahrheiten. Das heißt, die Wahrscheinlichkeit, dass man in einen Bereich eingreifen könnte, wo relativ wenig Widerstand zu erwarten ist, ist recht hoch. Wenngleich ich sagen muss, dass ich über alle Bereiche hinweg, auch außerhalb des Sozialbereichs, die zwingende Notwendigkeit sehe, zumindest zu prüfen, wie man mit dem gleichen Geld mehr Leistung erbringen kann, also Prüfung der Aufgaben und des Vollzugs.
Das trifft auch für das Jugendamt zu, so fair muss man sein und vertrete ich. Wenn wir uns anschauen, wo wir eigentlich in Leipzig im Vergleich zu anderen sächsischen Kommunen oder auch bundesweit die Fallzahlen und Kosten betreffend stehen, dann lässt sich festhalten, dass wir Spielraum haben und dass die Einsparpotenziale momentan durchaus realistisch erscheinen, wenn sie auch sehr, sehr ambitioniert und risikobehaftet sind.
Es geht nicht nur um Streichung, sondern einen bewusst angestrebten Angebotsumbau mit klaren Zielen und Leitplanken im Sinne der Kinder und Jugendliche. Bestenfalls zahlt es pädagogisch und fiskalisch ein. Als Jugendamtsleiter sind sie derzeit bestenfalls Fachpolitiker, Verwaltungsmensch und Kämmerer in einem. Ein sehr großes Spannungsfeld, was es täglich auszuhalten gilt.
Sie sprachen es jetzt schon beiläufig an. Kinder- und Jugendhilfe ist ein Zukunftsthema. Bedeutet das, dass was wir dort verpassen, die finanziellen Mittel die wir dort nicht einsetzen, brauchen wir dann in Zukunft ein mehrfaches Volumen, um diese Sachen zu korrigieren?
Kinder- und Jugendhilfe ist ein sehr breites Feld. Ich möchte es an einem Beispiel deutlich machen. Wenn wir über die frühkindliche Pädagogik sprechen, bin ich ganz bei Ihnen. Da sehen wir, dass die Verhaltensauffälligkeiten, die Sprachentwicklungsstörungen in der Stadt Leipzig überproportional zunehmen.
24 % aller Kinder im KITA Bereich hatten 2023 Sprachentwicklungsverzögerungen, 40 % waren es sogar in Grünau. Dasselbe haben wir auch noch in anderen Bereichen. Das können Sie auf unserer Plattform nachlesen. Das zeigt also erschreckend, dass wir da einen Nachholbedarf haben. Wenn wir dann parallel aber nicht beim Betreuungsschlüssel und ähnlichem mehr ansetzen, dann kann man tatsächlich sagen, dass die Belastungen in anderen Sozialleistungssystemen künftig dadurch größer werden.
Ob es das Gesundheitssystem ist, welches auch am Limit ist, wenn es um den Bereich der erzieherischen Hilfe im Jugendamt geht, berufliche und schulische Übergangssysteme und so weiter. Also da würde es sich lohnen.
Stadt Leipzig – Kindergesundheit in der Stadt Leipzig, Screenshot LZ
Wenn wir ehrlich sind, das meine ich mit dieser Gegenwartsdebatte, gibt es seit 30 bis 40 Jahren Studien, die uns Handlungsbedarfe als auch Lösungen attestieren. Wenn wir nicht im Gießkannenprinzip überall die gleichen Leistungen darüber geben, vielmehr ungleiches ungleich behandeln, dann habe ich einen sehr hohen Erfolg. So könnte ich daraus auch wirtschaftlich und volkswirtschaftlich einen Mehrwert generieren.
Dass sich Investitionen in frühkindliche Bildung lohnen, belegen zahlreiche Studien. Laut dem Institut der deutschen Wirtschaft Köln liegt die volkswirtschaftliche Rendite hochwertiger frühkindlicher Bildung bei rund 11 %, die staatliche Rendite bei 3 % – vorausgesetzt, es werden auch qualitätssteigernde Strukturveränderungen vorgenommen.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung zeigt zudem, dass Kinder aus benachteiligten Familien besonders stark profitieren und ein zusätzliches Jahr frühkindlicher Betreuung die Entwicklung nicht-kognitiver Fähigkeiten bis ins Jugendalter positiv beeinflusst. Also ich spare durch Investitionen, auch in Leipzig.
Also, wenn ich im Kindergarten ansetze, habe ich am Ende nach 10 oder 12 Jahren weniger Jugendliche ohne Schulabschluss?
Ich habe statistisch weniger Sozialleistung während der Lebensdauer und schon während der Schulzeit eine höhere Aussicht auf Bildungserfolg. Dennoch sind wir immer noch ein familienergänzendes und nicht familienersetzendes System: Die Elternverantwortung muss bleiben.
Die Wahrscheinlichkeit ist sehr, sehr hoch, dass der junge Mensch dann kein Schulabbrecher oder Schulverweigerer wird. Wir reden immer darüber, dass wir ein Ausgabe- und erstmals in Leipzig auch Einnahmeproblem haben. Das bedeutet aber, ich brauche junge Fachkräfte, innovatives Unternehmertum usw.
Und auch wenn Schule natürlich nicht nur den Auftrag hat Fachkräfte zu generieren, ist das aber neben der Persönlichkeitsentwicklung und Wachsens ein wesentlicher realpolitischer Punkt. Wenn ich Fachkräfte haben will, dann muss ich natürlich auch ein gutes Schulsystem, ein gutes Bildungs- und Regelsystem haben, sonst baue ich ganz viele Hilfen um ein dysfunktionales Problem herum.
Damit habe ich dann auch einkommensstärkere Steuerzahler, bessere Renten und so weiter und so fort. Also aus langer Sicht zahlt es definitiv in die Gesellschaft: Für den jungen Menschen selbst, für unsere Gemeinschaft und am Ende auch für die Volkswirtschaft. Jugendhilfe kann also auch ein guter Standortfaktor für Leipzig sein. Vielleicht setzt sich die Perspektive durch.
Bestimmte Kreise werden sagen: Sprachentwicklungsstörungen, das ist ja klar, schließlich haben wir viele Ausländerkinder in Kita und Schule. Liegt es wirklich daran?
Grundsätzlich, wenn Kinder bilingual aufwachsen, dann ist Sprache immer auch ein Thema in englischsprachigen genauso wie in arabischen Familien. Vorlesen und wenig digitale Medien sind die beste Prävention. Deshalb bin ich grundsätzlich für eine sehr frühe Versorgung in Regelstrukturen wie Kita. Da müssen wir eher ran, damit wir die Selbstbetreuungsquote in bestimmten sozialen Milieus senken.
Ausreichend Kapazität haben wir nun. Das gilt aber nicht nur für Migrantinnen und Migranten. Migration ist tatsächlich gar nicht so sehr das Thema, sondern wir haben nicht nur Sprachentwicklungsstörungen. Kinder können kaum noch einen Purzelbaum. Das betrifft alle Schichten. Es gibt ebenso eine Wohlstandsverwahrlosung im weitesten Sinne, materieller Überfluss und seelische und emotionale Vernachlässigung in Elternhäusern.
Die Inanspruchnahme von bestimmten Leistungen ist auch in Leipzig sehr unterschiedlich. Das sehen wir beispielsweise ganz besonders für das Thema Schulbegleitung. Da haben wir wirklich eine fast Verdreifachung der Zahlen seit 2019. Schulbegleitungen müssen 1 zu 1 betreuen in der Schule.
Das sind in der Regel Familien, die nicht aus einkommensarmen Milieus kommen, sondern das sind Kinder, die aus teilweise sehr privilegierten Verhältnissen stammen, die nehmen eher diese Leistungsformen in Anspruch. Ich will sagen: Jugendhilfe durchzieht tatsächlich alle sozialen Schichten und ist weniger eine Frage der Nationalität, mehr der Ungleichverteilung von Einkommen und damit Zugänge in das System.
Sie sagten gerade, Kinder die aus relativ gut situierten Familien kommen nehmen eher diese Leistungen in Anspruch. Hier kommen wir zum nächsten Thema. Wie gut können denn Menschen die ihnen zustehenden Leistungen in Anspruch nehmen? Ich vermute, aufgrund Ihrer Aussage, dass eher die Schichten, die in der Lage sind diese auch zu beantragen und durchzusetzen, das schaffen.
Wir sind ein unfassbar bürokratisches Land. Also das sehen wir nicht nur an den Personalaufwüchsen innerhalb der Verwaltung, die wir deshalb haben, weil immer wieder neue, hochkomplexe Gesetze vom Bund verabschiedet wurden und wir nicht in der Lage waren, das tatsächlich medienbruchfrei digital und bürgerfreundlich zu bearbeiten, oder die Hürden dafür sehr groß waren, weil die Ausführungsebene im Gesetzgebungsverfahren nicht gehört wurde.
In Leipzig gilt das analog. Wir haben sehr viele Leistungen bei sehr vielen unterschiedlichen Institutionen und Eltern ist es sehr wohl erschwert, bestimmte Leistungen in Anspruch zu nehmen. Dennoch möchte ich, das ist meine Vision, dass wir eine inklusive, polyzentrische Stadt, auch im Bereich der Jugendhilfe, mit starken lokalen Nachbarschaften und für einen verbesserten sozialen Kitt vor Ort werden.
Also, dass ich alles innerhalb von 15 Minuten erreiche, das wäre der Wahnsinn. Wir reden ja immer von Ärzten und von Supermärkten, eigentlich gilt das auch für die Kinder- und Jugendhilfe als Teil einer modernen Stadtentwicklung. Es wäre total schön, da haben wir mit den Planungsräumen begonnen, dass wir innerhalb von 15 Minuten beim Allgemeinen Sozialen Dienst sind oder dass wir innerhalb von 15 Minuten bei einer Familien- und Erziehungsberatungsstelle, in Angeboten der Kinder- und Jugendförderung wären.
Das wäre doch wünschenswert, dass Menschen innerhalb dieser Zeit zum Beispiel bei einem sozialräumlichen Angebot der Jobcenter Zugang fänden. Oder ein fußläufiger Ort, wo alle Leistungen für Familien aus einer Hand abgerufen werden könnten. Aber das ist tatsächlich eine Utopie.
In Teil 2 sprechen wir über Maßnahmen zur Digitalisierung, Kindergartenschließungen und Zukunftsaussichten.