Der Dokumentarfilm „Das Deutsche Volk“ erzählt die Geschichte des rassistischen Anschlags von Hanau 2020 aus der Perspektive der Hinterbliebenen und Überlebenden. Im Interview erzählt der Regisseur, warum er sie für die wahren Demokraten hält.
Am 19. Februar 2025 jährte sich der rassische Anschlag von Hanau zum fünften Mal. Der Frankfurter Filmemacher Marcin Wierzchowski hat Überlebende und Angehörige der neun Ermordeten über vier Jahre hinweg begleitet.
Sein Schwarz-weiß-Dokumentarfilm „Das deutsche Volk“ erzählt das Attentat und seine Folgen konsequent aus der Perspektive der Betroffenen.
Im Interview erzählt er, wie er das Vertrauen der Familien gewann, wie er die Diskussion um das geplante Mahnmal sieht und warum er die Angehörigen und Hinterbliebenen für die wahren Demokraten hält.
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03:35 Min.|28.08.25|Jan Tussing
Bild © Marcin Wierzchowski|
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Das Gespräch führte Jan Tussing.
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hessenschau.de: Wie ist das Thema für diesen Film zu Ihnen gekommen?
Marcin Wierzchowski: Ich habe mich schon lange mit dem Thema Rassismus beschäftigt. Ich komme selber aus Polen, die deutsch-polnische Geschichte ist ja historisch auch keine einfache.
Als nach 2015 so viele geflüchtete Menschen nach Deutschland kamen, hatten wir zuerst eine Willkommenskultur, aber dann schlug das Pendel in die andere Richtung aus. Die AfD wurde immer stärker und die gefühlte Stimmung im Land wurde immer rassistischer. Der Mord an Walter Lübcke, der Anschlag in Halle, das war ja auch nur ein halbes Jahr vor Hanau.
Irgendwie lag das in der Luft. Als ich nachts hörte, in Hanau wurden mehrere Menschen erschossen, habe ich zu meinem Mitbewohner gesagt: „Das war ein Nazi.“
hessenschau.de: Sie haben die Familien und Angehörigen über mehrere Jahre begleitet. Wie haben Sie es geschafft, das Vertrauen der Angehörigen zu gewinnen? Ich stelle mir das schwierig vor, in dieser Zeit der Trauer und Not.
Wierzchowski: Für mich war das eine langsame Annäherung. Aber die ersten Woche waren ja auch für die Familien schwer: Die Leichen wurden beschlagnahmt, den Familien wurde gar nicht gesagt, wo sie sind. Die Toten wurden obduziert und dann plötzlich freigegeben, ohne die Angehörigen darauf vorzubereiten.
Der Frankfurter Filmemacher Marcin Wierzchowski hat eine Dokumentation über die Anschläge von Hanau gedreht.
Bild © Privat
Dann gingen die Beerdigungen und Trauerfeiern los. Da bin ich hin gefahren, habe mich kurz vorgestellt und gefragt, ob ich das mit meiner Kamera dokumentieren darf. Ich glaube, damit bin ich im Gedächtnis geblieben.
Dann hat sich eine Familieninitiative gegründet, die haben einen Laden gemietet gegenüber vom ersten Tatort. Das war ihr Ort, wo sie immer hingehen konnten, auch im Covid-Lockdown. Die hätten es zu Hause ja gar nicht ausgehalten. Also dieser Ort war für sie auch so eine Art Gruppentherapie, und dort war ich dann auch immer.
hessenschau.de: Warum heißt der Film „Das Deutsche Volk“?
Wierzchowski: Auf dem Brüder-Grimm-Denkmal auf dem Marktplatz in Hanau steht die Inschrift: „Den Brüdern Grimm – das deutsche Volk.“ Dieses Denkmal wurde von den Familien seit dem ersten Tag zu einem Mahnmal umgewandelt, und bis heute gibt es die Diskussion, ob auf dem Marktplatz auch das endgültige Mahnmal stehen soll.
Der Täter hatte für sich entschieden, wer zum deutschen Volk gehört und wer nicht. Und er hat neun junge Leute umgebracht, weil er gesagt hat: „Ihr gehört nicht dazu.“ Also stelle ich in diesem Film die Frage: Wer gehört zum deutschen Volk, und wer gehört nicht zum deutschen Volk?
Szenenbild aus „Das Deutsche Volk“ vom Hanauer Marktplatz.
Bild © Marcin Wierzchowski
hessenschau.de: Die Diskussion um den Standort für das Mahnmal kommt auch im Film vor. Wie haben Sie sie erlebt?
Wierzchowski: Am Anfang hatten die Familien die Möglichkeit, sich für einen Entwurf zu entscheiden. Ihnen wurden verschiedene Entwürfe von Künstlern und Künstlerinnen gezeigt, es wurde in einem demokratischen Prozess entschieden. Das fing sehr gut an. Der Ort sollte vom Künstler bestimmt werden, sagte der Bürgermeister damals.
Dann kippte das mit der Zeit. Es hieß, viele Hanauer und Hanauerinnen seien gegen den Standort auf dem Marktplatz.
In Zeiten, wo die AfD erstarkt, wo es Diskussionen über Remigration gibt, kann ich mir schon vorstellen, dass wirklich viele Bürgerinnen und Bürger nicht wollten, dass dieses Mahnmal im Zentrum der Stadt ist. Für mich ist das auch eine metaphorische Diskussion.
hessenschau.de: Die Angehörigen sagen: „Das waren Kinder von Hanau, die gehören ins Zentrum dieser Stadt.“
Wierzchowski: Der Bruder eines Opfers sagt, meines Erachtens zurecht: „Die Bevölkerung von Hanau muss täglich daran erinnert werden.“ Deswegen sei der Marktplatz auch ein guter Ort für das Mahnmal. Ich kann mir aber sehr gut vorstellen, dass das massive Anfeindungen gab.
Ich habe kürzlich Flyer verteilt am Marktplatz, habe Leute eingeladen zum Screening am 31. August. Dabei ist mir wirklich bei den ersten Leuten massive Ablehnung entgegengekommen. Da sind rassistische Aussagen gefallen, da ist mir wirklich… Ich dachte: Okay, wow. Zum Teil sehr heftig. Das änderte sich dann zum Glück.
„Das deutsche Volk“ kommt nun in die Kinos.
Bild © Rise And Shine Cinema
Der Hanauer Marktplatz ist ja eigentlich ein wundervoller Ort. Da sind Menschen aus so vielen Ländern, die auch mittlerweile Deutsche sind. Da werden viele Sprachen gesprochen, viele Hautfarben und Kulturen. Also eigentlich ein Ort, wo man sieht, dass das deutsche Volk sich heutzutage eben anders zusammensetzt.
Aber ich glaube, der Claus Kaminsky, SPD; d. Red.) „}]}“>Oberbürgermeister (Claus Kaminsky, SPD; d. Red.) musste da einen schwierigen demokratischen Diskurs moderieren.
hessenschau.de: Kaminsky und andere Politiker sind von den Angehörigen hart kritisiert worden. Es gibt einen starken Moment im Film, als der damalige Innenminister Beuth sich entschuldigen soll für die Fehler und vielen Versäumnisse der Polizei. Er lehnt das einfach ab. Wie haben Sie das wahrgenommen?
Wierzchowski: Ich habe vorher nie verstanden, was Kafka-esk eigentlich bedeutet. Aber dieser Untersuchungsausschuss, dem ich über zweieinhalb Jahre beigewohnt habe, fast jede Sitzung, hatte solche Kafka-esken Elemente.
Stück für Stück kommt man dem Versagen der Behörden näher. Diese ganzen Sachen werden aufgedeckt: der Notruf, der Notausgang, die beschlagnahmten Leichen, wie die behandelt wurden.
Dass die Angehörigen angerufen wurden zwei Wochen nach dem Anschlag und ihnen gesagt wurde, sie sollten keine Rache verüben.
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Ermordet am 19. Februar 2020 in Hanau
Bild 1/9 |Kaloyan Velkov
Kaloyan Velkov kam 2018 aus Bulgarien nach Deutschland. Er arbeitete in der Bar La Votre in der Hanauer Innenstadt – auch in der Tatnacht. Der Vater eines Kindes wurde 33 Jahre alt.
Bild © Illustration: Inga Reichert (hr)|
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Bild 2/9 |Sedat Gürbüz
Dem 29-Jährigen gehörte die Shisha-Bar Midnight am Heumarkt. Dort erschoss ihn der rechtsextremistische Attentäter. Die Familie von Sedat Gürbüz stammt aus der Türkei.
Bild © Illustration: Inga Reichert (hr)|
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Bild 3/9 |Fatih Saraçoğlu
Seinen Mörder traf Fatih Saraçoğlu, als er mit einem Freund zum Rauchen vor der Shisha-Bar Midnight stand. Der 34-Jährige war mit seiner Freundin wenige Jahre zuvor von Regensburg (Bayern) nach Hanau gezogen. Dort wollte er sich selbstständig machen.
Bild © Illustration: Inga Reichert (hr)|
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Bild 4/9 |Vili Viorel Păun
Vili Viorel Păun zog als Jugendlicher von Rumänien nach Deutschland. Zuletzt arbeitete der 22-Jährige als Kurierfahrer – auch in der Tatnacht war er mit seinem Lieferwagen unterwegs, als er in der Innenstadt den Attentäter bemerkte und ihn, da er den Notruf der Polizei nicht erreichte, nach Kesselstadt verfolgte. Er war das einzige Kind seiner Eltern.
Bild © Illustration: Inga Reichert (hr)|
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Bild 5/9 |Mercedes Kierpacz
Die Romni mit polnischen Wurzeln arbeitete in der Arena-Bar in Hanau-Kesselstadt, einer Bar mit Kiosk. Am 19. Februar 2020 wollte sie dort nur eine Pizza für ihre beiden Kinder holen, eigentlich hatte sie frei. Der Attentäter erschoss sie, sobald er den Laden betrat. Mercedes Kierpacz wurde 35 Jahre alt.
Bild © Illustration: Inga Reichert (hr)|
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Bild 6/9 |Gökhan Gültekin
Der gelernte Maurer führte ein Transportunternehmen. Zur Welt kam er in Hanau, wohin seine Eltern aus dem kurdischen Teil der Türkei gezogen waren. Gökhan Gültekin wurde am 19. Februar 2020 ermordet. Er war 37 Jahre alt.
Bild © Illustration: Inga Reichert (hr)|
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Bild 7/9 |Said Nesar Hashemi
Er schaute mit seinem Bruder Said Etris und Freunden an jenem Abend ein Fußballspiel in der Arena-Bar. Said Nesar Hashemi wuchs in Hanau auf und hatte Maschinen- und Anlagenführer gelernt, seine Familie kam aus Afghanistan. Er starb mit 21 Jahren.
Bild © Illustration: Inga Reichert (hr)|
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Bild 8/9 |Hamza Kurtović
Seine Familie stammt aus Bosnien-Herzegowina, er und seine Geschwister wurden in Deutschland geboren und wuchsen in Hanau auf. Der 22-Jährige hatte seine Ausbildung zum Lageristen abgeschlossen. Hamza Kurtović wurde in der Arena-Bar ermordet.
Bild © Illustration: Inga Reichert (hr)|
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Bild 9/9 |Ferhat Unvar
Seine Eltern sind Kurden, er kam in Deutschland zur Welt und wuchs in Hanau auf. Der Gas- und Wasserinstallateur wurde 23 Jahre alt. Er traf sich oft mit Freunden in der Arena-Bar, auch in der Tatnacht. Seine Mutter Serpil Unvar gründete die „Bildungsinitiative Ferhat Unvar“.
Bild © Illustration: Inga Reichert (hr)|
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Also lauter Fehler, die wirklich nochmal Traumata ausgelöst haben. Und am Ende kommt der Innenminister und schafft es nicht mal ein Wort der Reue zu sagen.
Es gab ja auch keinerlei Konsequenzen. Alle, die damals verantwortlich waren für das Versagen, wurden frühzeitig in den Ruhestand versetzt oder befördert. Sie wurden letztendlich im Sinne eines demokratischen Rechtsstaates überhaupt nicht zur Rechenschaft gezogen.
hessenschau.de: Glauben Sie, dass die Angehörigen das Vertrauen in den Rechtsstaat verloren haben?
Wierzchowski: Alle diese Familien hatten einen riesigen Glauben an den Rechtsstaat und haben sich als Bürger dieses Landes gefühlt.
Dieser Glaube wurde gebrochen vom ersten Tag an. Es gab keinerlei Informationen, was genau passiert ist, falsche Todeszeitpunkte waren notiert. Manche Eltern dachten fälschlich, ihr Kind habe über Stunden gelitten und sei langsam verblutet.
Andererseits sind die Angehörigen und Überlebenden von Hanau Demokraten par excellence. Sie machen Demonstrationen, das ist ein demokratisches Gut. Sie schalten Anwälte ein und versuchen über die juristische Ebene ihre bürgerlichen Rechte einzufordern. Sie machen eine Ausstellung, um den Anschlag aufzuklären.
Genau dieses Zusammenleben, das immer gefordert wird von der Politik, ihr müsst euch anpassen, ihr müsst euch an die deutschen Gesetze halten und so weiter: Das wird mit Füßen getreten. Dann braucht man sich nicht zu wundern, wenn Demokratie auch erodiert.
hessenschau.de: Sie sind mit einigen Angehörigen noch immer in Kontakt. Wie geht es denen, über fünf Jahre nach der Tat?
Wierzchowski: Das ist durchaus unterschiedlich. Die Geschwister, die noch ein langes Leben vor sich haben, jetzt selber Kinder kriegen, die versuchen, in die Zukunft zu schauen.
Aber für die meisten Eltern ist es wirklich schwer, damit zurechtzukommen. Die Familie von Vili Viorel Păun ist häufig in Rumänien, weil sie sich da in ihrer Nachbarschaft besser aufgehoben fühlen als hier. Die Familie Kurtović kämpft noch immer darum, endlich ein Verfahren zu kriegen.
Denen geht es zum großen Teil sehr schlecht, würde ich sagen. Andere versuchen einfach, irgendwie ihr Leben auf die Reihe zu kriegen.
Weitere Informationen „Das Deutsche Volk“
Der Film kommt am 4. September in die hessischen Kinos. Im Kinopolis Hanau gibt es am Sonntag, 31. August, um 10:30 Uhr eine Preview.
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