Wie will man als Stadt eigentlich steuern, wenn man nicht einmal weiß, wie viele Kunden des Jobcenters überhöhte Mieten zahlen, Mietkostensenkungsaufforderungen bekommen, umziehen müssen, weil die Wohnung zu teuer ist, Stromschulden und Stromsperren haben? In der Vergangenheit gab es dazu immer wieder heftige Dissonanzen mit der Jobcenter-Leitung. Aber das Verhältnis hat sich geändert. Und die Linsfraktion im Leipziger Stadtrat hofft jetzt, auch mehr belastbare Zahlen zur Wohnsituation von Bedarfsgemeinschaften zu bekommen.
Den Antrag hatte die Linksfraktion zur Ratsversammlung am 26. August recht detailliert gestellt. Denn welche Zahlen man eigentlich braucht, um dann eventuell bei den Kosten der Unterkunft (KdU) gegenzusteuern, weiß man ja im Stadtrat nach jahrelangen Diskussionen. Diskussionen, die sich verschärft haben, seitdem bezahlbarer Wohnraum in Leipzig knapp geworden ist.
Die Leerstandreserve liegt inzwischen unter 2 Prozent – viel zu wenig in einer Stadt wie Leipzig. Aber nur etwas über 500 Wohnungen im Bereich der Kosten der Unterkunft standen 2024 überhaupt für mögliche Umzüge von Betroffenen zur Verfügung, stellte Linke-Stadtrat Enrico Stange am 26. August fest.
Bei inzwischen knapp 32.000 Bedarfsgemeinschaften in der Stadt, so Stange, ist das nicht mal ein Tropfen auf den heißen Stein. Wohin solle diese Familien umziehen, wenn es in Leipzig schlicht keine freien Wohnungen mehr für sie im KdU-Kostenrahmen gibt? Was sollen sie bei einer Umzugsaufforderung tun, wenn sie in der Stadt keine bezahlbare Wohnung mehr finden?
Wo findet man die Fallzahlen?
Und so beantragte die Linksfraktion: „Der Oberbürgermeister wird beauftragt, über die Trägerversammlung des Jobcenters darauf hinzuwirken, dass die Geschäftsführung des Jobcenters die Voraussetzungen dafür schafft, folgende Daten erheben und zur Verfügung stellen zu können:
Fallzahlen zu anerkannten und tatsächlichen Wohnkosten (Miete, Heizung, Warmwasserbereitung), Mietkostensenkungsaufforderungen, Umzug bzw. Nichtumzug bei unangemessenen Wohnkosten
Fallzahlen zu Stromschulden (nach Größenklassen), Stromsperren, Übernahme bzw. Darlehen zur Tilgung von Stromschulden.“
Die Begründung benannte dann schlicht die Tatsache, dass man ohne eine belastbare Datenbasis eben auch keine sinnvollen Entscheidungen zu den Kosten der Unterkunft treffen kann, über die der Stadtrat in regelmäßigen Abständen entscheiden muss.
„Nur auf der Grundlage einer gesicherten Faktenbasis kann die Stadtverwaltung ein vollständiges Bild der Bedürftigkeit und der nötigen Ansätze wirkungsvoller Steuerungsprozesse erlangen. Um diese Datengrundlage zu bilden, muss auch das Jobcenter in die Lage versetzt werden, die erforderliche Detailtiefe der Daten vorzuhalten“, betonte die Linksfraktion in ihrem Antrag.
Und die Jobcenter-Leitung hat wohl schon Zustimmung signalisiert, die benötigten Zahlen so weit es geht zu erfassen. Das ist nicht ganz einfach, wie das Sozialamt in seiner Stellungnahme feststellt.
Digitale Hierarchien und händische Auswertung
Es ist ein klassisches Beispiel für die deutsche Digitalisierung, die an den tatsächlichen Bedarfen der Nutzer völlig vorbeigeht.
„Die von den Antragstellern begehrten Informationen zu den anerkannten und tatsächlichen Wohnkosten liegen in einem von der Bundesagentur zentral verwalteten Verfahren der Informationstechnik (ALLEGRO) vor, sofern sie für die Leistungsgewährung notwendig sind. Das betrifft insbesondere die Wohnkosten, die sich i.d.R. aus einer Grundmiete, sog. kalten Betriebskosten und Heizkosten zusammensetzen.
Die Heizkosten beinhalten überwiegend auch die Kosten der Warmwasseraufbereitung. Kosten der Warmwasseraufbereitung werden nur von wenigen Vermietern in den Mietverträgen gesondert ausgewiesen und daher im Jobcenter auch nicht von den Heizkosten getrennt erfasst. Das Jobcenter ist nicht in der Lage, in ALLEGRO hinterlegte Daten eigenständig auszuwerten.“
Wer organisiert eigentlich solche Datenhierarchien? Leute, die in ihrem Dauerschlaf nicht gestört werden wollen?
Andere Daten stehen dann wieder nicht im ALLEGRO: „Mietsenkungsaufforderungen werden bei einer maßgeblichen Überschreitung der angemessenen Richtwerte der Kosten der Unterkunft und erst nach Ablauf der einjährigen Karenzzeit an betroffene Haushalte versandt. Mietsenkungsaufforderungen werden in einem Textverarbeitungsprogramm im Jobcenter erzeugt und in der elektronischen Akte aufbewahrt. Ob in einem Einzelfall eine Mietsenkungsaufforderung erteilt wurde, wird nicht in ALLEGRO oder einem anderen IT-Verfahren nachgehalten. Mit der Bundesagentur für Arbeit ist zu klären, ob eine IT-gestützte Erfassung erteilter Mietsenkungsaufforderungen möglich ist. Eine händische Erfassung durch mehrere hundert Mitarbeiter/-innen in der Leistungsgewährung wird ausgeschlossen. Einerseits ist eine gesonderte händische Erfassung fehleranfällig, andererseits mit zusätzlichem personellen Aufwand verbunden, der vermieden werden muss.“
So etwas nennt man in Deutschland tatsächlich Digitalisierung.
Die Stadt will’s versuchen
Das Leipziger Jobcenter will sich trotzdem bemühen, die Zahlen irgendwie zusammenzusammeln. Und das Sozialamt sagt zu: „1. Der Oberbürgermeister prüft bis Ende des III. Quartals, welche Informationen durch das Jobcenter aus dem vorhandenen Datenbestand ausgewertet und bereitgestellt werden können
zu anerkannten und tatsächlichen Wohnkosten,
zu Mietsenkungsaufforderungen,
zu Umzügen und nicht erfolgten Umzügen bei unangemessenen Wohnkosten.
Über das Ergebnis wird im Fachausschuss Soziales, Gesundheit und Vielfalt sowie im Fachausschuss Wirtschaft, Arbeit und Digitales informiert.
2. Informationen zu gewährten Leistungen zur Tilgung von Stromschulden zur Vermeidung von Stromsperren werden in den Sozialreport der Stadt Leipzig aufgenommen.“
Man kann gespannt sein, ob sich die gewünschten Daten tatsächlich erschließen lassen oder ob die Stadt Leipzig einmal mehr an der Hürde Digitalisierung scheitert. Was dann die Debatten um die Kosten der Unterkunft wieder zu einem einzigen Stochern im Nebel machen wird, obwohl alle wissen, dass man belastbare Zahlen aus der Wirklichkeit der Betroffenen braucht.
Enrico Stange fand die Vorlage der Stadt entsprechend richtig und ließ sie zur Abstimmung stellen. Und sie bekam mit 50:0 Stimmen auch eine klare Mehrheit. Nur die AfD-Fraktion hatte mal wieder keine Meinung und enthielt sich.