Was ist schon typisch Stuttgart? Die Maultasche? Der Mercedes-Stern? Die John-Cranko-Ballettschule? Die Stäffele? Die nervigste Bahnhofsbaustelle der Welt? Ja, auch. Doch vor allem ist Stuttgart eine Stadt, die sich gerne selbst betrachtet. Diese sympathische Egozentrik dieser Stadt und ihrer Bewohner ist der Kessellage geschuldet. Ist man unten im Tal, schaut man nach oben, ist man oben, guckt man hinunter, wo der Neckar und der nie versiegende Autostrom fließt.

Kaum bezahlbare Wohnlage in Stuttgart

Am schönsten aber ist die Aussicht von einer dieser vielen Halbhöhen, nach oben, nach unten, oder hinüber zum nächsten Hügel. Typisch Stuttgart ist allerdings auch die Tatsache, dass diese Halbhöhen dank der großen Sehnsucht der hier lebenden Menschen nach einem weiten, unverstellten Ausblick zu begehrten, leider für die meisten Stuttgarter kaum bezahlbaren Wohnlagen geworden sind.

Das gilt im Besonderen für ein einzigartiges Gebäudeensemble in der Schottstraße. „Das ist mitunter das Highlight des Hauses: Hier hat man den Hang und den Ausblick. Und das macht ja gerade den Reiz dieser Stadt aus.“ Sagt tief durchatmend der Makler Gerrit Koresch, der für die zwei ehemaligen Privathäuser der Architekten Erwin Heinle und Robert Wischer Käufer sucht.

Gediegene Villen auf den Stuttgarter Anhöhen

Der Stuttgarter Architekt Mirko Ruppenstein nickt zur Bestätigung, er verantwortet die denkmalgerechte Sanierung dieser Häuser und kennt mittlerweile jede Ecke der architektonischen Zwillinge. Koresch, Ruppenstein und der Journalist stehen an einem herrlichen Sommertag gemeinsam auf dem frisch gedeckten und isolierten Flachdach des Heinle-Hauses, sehen hinüber zum Fernsehturm.

Man tastet mit den Augen die häufig dicht bebauten Anhöhen ab, blickt hinunter zur Russischen Kirche, zum Stuttgarter Westen und wieder zurück zur Schottstraße, in deren weiterem Verlauf zwischen gediegenen Villen noch weitere architektonische Sehenswürdigkeiten zu entdecken sind, wie etwa das gleißend helle und nicht zu übersehende Wohngebäude des berühmten US-Architekten und Pritzkerpreisträgers Richard Meyer.

Mit unverbaubarem Blick über die Stuttgarter City

Geradezu bescheiden lugen hingegen die Bauten von Heinle und Wischer aus dem Grün: die verglasten, miteinander über ein gemeinsames Bürogeschoss verbundenen Wohnwürfel schmiegen sich dezent in den Hang mit seinem alten Baumbestand. Sie sind selbst für Kenner der Stadt vom Hölderlinplatz weiter unten kaum auszumachen. „Die Lage der beiden Kuben ist einzigartig: ruhig, kaum einsehbar, am Südwesthang des Killesbergs gelegen – mit unverbaubarem Blick über die Stuttgarter City bis zum Fernsehturm“, sagt Gerrit Koresch. „Grundstücke dieser Qualität sind kaum verfügbar.“

Perfekter Ort für eine Rooftop-Party

Die drei Männer auf dem Dach sind sich einig: viel stilvoller kann man in dieser Stadt wohl nicht residieren. Fehlt eigentlich nur noch ein Sonnenschirm und ein spritziges Kaltgetränk. Früher hat die Familie Heinle auf diesem Dach gelegentlich eine Fete geschmissen, um sprachlich in der Zeit zu bleiben, also Ende der 60er, in den 70ern, die Nachbarn wurden selbstredend rechtzeitig gewarnt und eingeladen, heute würde man wohl von einer Rooftop-Party sprechen.

Der Geist der jungen Bundesrepublik

Dass diese Architektur Geschichte atmet und für einen bestimmten Lifestyle steht, ja auch für einen technikfreundlichen Fortschrittsglauben in der damals noch jungen Bundesrepublik, ist hier ganz deutlich spürbar. Die Häuser mit ihren großzügigen, bodentiefen Glasflächen wirken leicht, schwebend, transparent.

Bekenntnis zur Moderne: Das Landtagsgebäude Baden-Württembergs

Ein anderes Stuttgarter Gebäude ist in diesem Geist entstanden und trägt die Handschrift von Erwin Heinle: der Landtag von Baden-Württemberg – übrigens das erste Parlamentsgebäude, das in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg gebaut wurde. Erwin Heinle setzte 1961 gemeinsam mit dem Leiter der Staatlichen Hochbauverwaltung, Horst Linde – basierend auf dem Entwurf von Kurt Viertel – den Bau des viel gelobten Parlamentsgebäudes um.

Bau des Olympischen Dorfes in München

Der Landtag ist ein markantes Bekenntnis zur Moderne und eines des zahlreichen Referenzgebäude des 2002 verstorbenen Architekten und Hochschulprofessors Erwin Heinle sowie seines Kompagnons Robert Wischer. Die Mitarbeit am Stuttgarter Fernsehturm sowie der Bau des Olympischen Dorfes in München gehörten ebenfalls zu jenen prestigeträchtigen Arbeiten Heinles, die den gebürtigen Stuttgarter weit über die Grenzen seiner Heimatstadt bekannt gemacht haben.

Die Auftragslage muss also dementsprechend gut gewesen sein, sodass sich Erwin Heinle und sein Büropartner Robert Wischer auf einem großen, parkähnlichen Grundstück in allerbester Aussichtslage am Stuttgarter Relenberg unweit des Kriegsbergturms und der berühmten Weissenhofsiedlung diese zwei Wohnkuben errichten ließen. Das war 1966 und 1967. Seit 2010 steht das Anwesen aus zwei Einfamilienhäusern mit gemeinsamem Büro unter Denkmalschutz.

Das ist auch nachvollziehbar. Die Proportionen, die Materialanmutung, die Lage – alles passt in der Schottstraße, ist gut ausbalanciert und selbst der Laie weiß sofort: das ist große Architektur. Gewollt – und gekonnt. Die Stahlskelettkonstruktion und Vertikalsprossen überziehen die Kuben mit einer feinen Gitterstruktur, die wiederum mit den dunklen Holzeinbauten wunderbar kontrastiert.

Im ehemaligen Wohnzimmer von Erwin Heinle: Der Architekt Mirko Ruppenstein und Gerrit Koresch von Moventia Real Estate. Foto: Moventia

Viele Originaleinbauten sind noch vorhanden und werden professionell aufgearbeitet. Mittlerweile befinden sich die beiden Häuser mit jeweils knapp 270 Quadratmetern Wohnfläche (sowie Schwimmbad, Garten und der Atelierfläche von 439 Quadratmetern) nicht mehr im Familienbesitz der Erben. Der jetzige Eigentümer will das Objekt verkaufen, und zwar als Ensemble.

Midcentury auf der Stuttgarter Halbhöhe

Wer sich dazu entschließt, erhält ein Kulturdenkmal im edlen Rohbauzustand. „Der Preis ist auf Anfrage, auf Wunsch des Eigentümers. Zum Preis im Ist-Zustand kommen dann noch Kosten für den weiteren Innenausbau“, sagt Gerrit Koresch. „Ein Konzept dafür liegt vor und kann auf Wunsch mit individuellen Anpassungen von unserer Seite realisiert werden.“

Einklappbare Barhocker von Charles und Ray Eames

Die umfangreiche Kernsanierung ist in vollem Gange, alles wird restauriert, selbst die einklappbaren, für den Küchenbereich speziell angefertigten Barhocker von Charles und Ray Eames. Treppen, Handläufe, Einbauschränke, Türen – die Schreiner haben ordentlich zu tun. Die gesamte Außenhülle wurde bereits erneuert, und zwar auf den neuesten technischen Stand.

„Wir haben es geschafft, trotz der energetischen Sanierung denkmalgerecht die ursprünglichen Proportionen zu erhalten“, erklärt der Architekt Mirko Ruppenstein. Das klingt erst einmal einfacher als war. Denn die Fassade, die größtenteils aus Glas besteht, wurde zu einer Zeit konstruiert, als das Klima noch prima schien und kein Mensch, auch kaum ein Architekt, ans Energiesparen dachte. „Ein Problem, das uns Kopfzerbrechen bereitet hat: Die Fassade war thermisch nicht getrennt“, erinnert sich Mirko Ruppenstein.

Der Energieverlust beim Heizen wäre demnach immens. Also wurde getüftelt, nach Lösungen gesucht, mit dem hiesigen Denkmalamt diskutiert. Schließlich konnte eine zeitgemäße technische Variante entwickelt werden. „Die neue vorgehängte Fassade wurde gedämmt, thermisch getrennt ausgeführt und mit Sonnenschutz-Isolierglas samt Edelgasfüllung verglast. Ergänzt wird das energetische Konzept durch eine moderne Luft-Wärmepumpe, Fußbodenheizung und Klimatisierung“, sagt Mirko Ruppenstein, während er durch die beiden Häuser streift, ein wenig vorsichtig, so scheint es, als sei das gar keine Baustelle, sondern vielmehr eine weihevolle Stätte der Architektur.

Restaurierung durch Schreiner aus Stuttgart

Oft streichelt er die Oberflächen mit der Hand, kennt als gelernter Schreiner alle verbauten Holzarten, spricht über die herausragende Leistung des Stuttgarter Schreiners, der die Einbauten nun restauriert. „Es ist anstrengend, anspruchsvoll, es zieht sich lange hin“, gibt der Architekt und Hochschullehrer unumwunden zu. „Es ist aber auch toll, nichts von der Stange. Und, ja, es ist auch eine Ehre, die Häuser von Heinle und Wischer auf diese sorgfältige und durchaus kostspielige Weise sanieren und umbauen zu dürfen.“

Dass beim Blick auf die beiden luftigen, geradezu schwebenden Gebäude recht eindeutige Assoziationen entstehen und sich das angenehme Gefühl einstellt, als könnte man seiner Zeit, seiner Epoche entfliehen, war und ist womöglich beabsichtigt. Gute Architektur ist nicht selten zeitlos. Ein bisschen good old America am Killesberg.

Das eigene Stuttgarter Traumhaus

„Die Häuser sind eine gelungene Mixtur aus den Case Study Houses und der Ästhetik Mies van der Rohes“, findet Mirko Ruppenstein. Heinle und Wischers Ästhetik ist von Ludwig Mies van der Rohes Geist durchweht, sie ist inspiriert von der Architektur der Chicagoer Nachkriegszeit mit ihrer nüchternen, konstruktionsbetonten Formensprache.

Tatsächlich hat auch Erwin Heinle höchstselbst einmal die Frage nach seinem Traumhaus so beantwortet: „Das Farnsworth House bei Chicago von Mies van der Rohe.“ Und als er noch gefragt wurde, was denn sein gelungenstes Objekt gewesen sei, entgegnete er schlicht: „Unser Wohnhaus.“

Info

Immobilie
Die beiden ehemaligen Wohnhäuser von Erwin Heinle und Robert Wischer werden über die Stuttgarter Moventia Real Estate GmbH angeboten. Der Preis ist auf Anfrage.

Büro
1962 begann die Geschichte des Büros Erwin Heinle (1917-2002) und Robert Wischer (1930-2007). Das Büro war direkt in einem unterhalb der Wohnhäuser gelegenen Ateliergeschoss untergebracht. Das Architekturbüro besteht noch heute, ist aber in ein anderes Gebäude umgezogen. Es wird von Thomas Heinle, dem Sohn von Erwin Heinle, geleitet. Aktuell erstellen Heinle Wischer und Partner unter anderem ein Gebäude in der Hamburger Hafencity, das im Gebrauch CO2neutral sein soll.

Tag des offenen Denkmals
Am 14. September ist Tag des offenen Denkmals – und die Wohnhäuser von Heinle und Wischer können ebenfalls besichtigt werden. Mehrere 20-minütige Führungen an diesem Tag sind vorgesehen, unter fachkundiger Begleitung von Mirko Ruppenstein, der als Architekt auch die Kernsanierung der Gebäude verantwortet. Treffpunkt ist die Schottstraße 110 in 70192 Stuttgart, nähere Informationen zur Anmeldung unter www.tag-des-offenen-denkmals.de sowie bei Fragen unter ruppenstein@ruppenstein-ia.de.