Als gelernter Finanzassistent muss ich immer wieder ein wenig schmunzeln, wenn mir Leute, mit einigem Recht, von ihrer Angst vor Palantir berichten – dieser Software von Peter Thiel, die Polizeidaten in die USA abfließen lassen könnte. Denn sehr viele von uns Deutschen nutzen eben immer noch Paypal. Und genau damit wurde Thiel reich – und seine Mit-Ausgezahlten nennen sich bis heute die “Paypal-Mafia”. Und mir kann niemand erzählen, dass die Millionen von Finanzdaten, die damit täglich in Deutschland erstellt werden, nicht auch in die USA abfließen würden.
Aus meiner Sicht auch religionswissenschaftlich sehr hörenswert ist der Deutschlandfunk-Podcast “Die Peter Thiel Story”. Screenshot meines Mastodon-Posts vom 29.08.2025: Michael Blume
Andere Länder wie die Niederlande oder die Schweiz haben schon längst eigene Finanzsoftware. Wir in Deutschland haben mal wieder den fossilen und bequemen Weg gewählt und sind derzeit, was IT angeht, noch weitgehend Vasallen der USA und von China.
“Michael, was hat es mit diesem Katechon auf sich, an den auch Peter Thiel glaubt?”
Aber nun ist es so, dass ich eben Religionswissenschaftler bin und deswegen die meisten Fragen bei mir zu religiösen Themen eingehen. Deswegen bin ich auch in den letzten Tagen immer wieder gefragt worden, was es denn mit dem Glauben an den Katechon auf sich habe.
Es ist tatsächlich eine ganz spannende Geschichte und deswegen möchte ich sie gerne so einfach und kompakt wie möglich erzählen.
Ihr findet den Katechon in der Bibel im zweiten Buch Thessaloniker 2,7. Dort heißt es:
“Denn das Geheimnis des Frevels ist bereits wirksam, nur muss der, der es jetzt aufhält, erst hinweg getan werden.”
Der, der es jetzt aufhält, das ist altgriechisch “to katechon”, der Katechon. Aufhalten soll er den “Mensch des Frevels” (2. Thess 2,3). Damit wurde in der jüdischen Apokalyptik ein blutrünstiger Tyrann wie der Seleukidenkönig Antiochus IV. oder der römische General Pompeius bezeichnet, die jeweils auch Heilige Stätten schändeten.
Die christliche Tradition deutete diesen “Mensch des Frevels” zunehmend dualistisch als teuflischen “Antichrist” – und der Katechon sei der Sterbliche, der ihn noch aufhalte. Es war dabei nie klar, wer genau mit Katechon eigentlich gemeint war. Naheliegend wäre natürlich eine Person der Kirche gewesen. Aber in der damaligen Zeit waren die Kirchen durch Mission und Kinderreichtum aufstrebend und wuchsen stark. Die Vorstellung, Kirchen und Lehrende müssten erst “hinweg getan werden”, war den frühen Interpreten entsprechend fremd. Stattdessen setzte sich die Deutung durch, es sei das Römische Reich damit gemeint, dessen Institutionen der Tyrannei wehren sollten. Langsam floss so römische Zivilreligion ins Christentum ein: Wo das Cäsar-Kaiserreich ist, da halte es trotz allem Unrecht immerhin den Antichristen auf.
Schließlich ging das Römische Reich aber doch unter – und auch wegen dem Katechon-Glauben gab es eine Sehnsucht nach einer Fortsetzung. So wurden Ostrom, Byzanz als Konstantinopel, später auch Westrom, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation um Aachen mit Kaiser Karl dem Großen (747 – 814) in den Traditionen ab der Kaiserkrönung durch den Papst in Rom um 800 zum neuen, “zweiten Reich”.
Im ersten eBooklet zur neuen Buchstabiertafel “A wie Aachen. Das Alphabet und die Maiers machen Gesetze” erzählte ich die Entstehung des weströmischen Kaiserreiches, später Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation. Bild: Michael Blume
Als dann aber 1806 auch das Heilige Römische Reich Deutscher Nation – das weder heilig noch römisch noch deutscher Nation gewesen war – durch den französischen und selbsternannten Kaiser Napoleon Bonaparte (1769 – 1821) beendet wurde und 1918 auch das kurzlebige, preußisch-deutsche Kaiserreich im Ersten Weltkrieg unterging, fühlten sich Katechon-Gläubige verlassen und von den demokratischen Republiken immer stärker bedroht. In Deutschland prominent wurde der Katechon-gläubige Jurist und bekennende Freund-Feind-Dualist Carl Schmitt (1888 – 1985), der Dialog und Demokratien verabscheute und wieder ein Reich forderte, bis hin zum tyrannophilen Ausspruch: “Der Führer schützt das Recht.”
Wir sehen hier, dass das Christentum durch den Katechon-Glauben gewissermaßen dualistisch auf den Kopf gestellt wird. Es geht also jetzt nicht mehr darum, den durch die Bibel und Rabbi Jehoschua / Jesus offenbarten Willen Gottes auch außerhalb und notfalls gegen die Politik zu tun – sondern stattdessen darum, mit Gewalt und Tyrannen imperiale Reiche zu errichten. Nicht mehr die überzeitliche Kirche, sondern das zeitliche Reich wird zum Bezugspunkt des post-christlichen Glaubens.
Genau das, wovor auch die jüdische Apokalyptik zur Zeit des frühen Christentums ausdrücklich gewarnt hatte, sollte jetzt vor einem außerweltlichen Antichristen “schützen”!
Und diesen antichristlichen und antijüdischen Dualismus haben wir dann leider auch nicht nur in Deutschland, sondern inzwischen auch in Russland. Dort ist dann die Rede davon, dass Moskau das Dritte Reich nach Rom und Byzanz sei. (Daher übrigens auch die Feindseligkeit des Moskauer Patriarchats gegen das immer noch bestehende Patriarchat von Konstantinopel / Istanbul.)
Rechtsdualisten wie Alexander Dugin, ein einflussreicher Ideologe des Putin-Imperialismus, dessen rechtsdualistische Denkfabrik sogar “Katehon” heißt, lehren entsprechend: Das Russische Reich muss wieder erstehen gegen die gefährliche Vorherrschaft des Antichristen in Form von demokratischen Republiken. Die Europäische Union ist Putin-Reichsideologen also nicht nur irgendein Feind, sondern tatsächlich eine endzeitliche Bedrohung! Und dass die Ukraine demokratisch wurde, kann in dieser Ideologie daher nur als Vormarsch des Antichristen gegen das dritte und letzte Reich von Moskau gedeutet werden. Wir müssen leider davon ausgehen, dass nicht wenige Russen bis tief in die orthodoxe Kirche hinein diesen antiliberalen Dualismus ernsthaft glauben.
Tja, und jetzt haben wir das mit Leuten wie Peter Thiel leider auch in den USA. Thiel glaubt an den Katechon und also, dass es nach dem britischen Empire nun unbedingt ein Drittes Reich der Weißen in Nordamerika bräuchte. Er erkennt die Republik, die Demokratie nicht an und äußerte sich konkret auch negativ zum Frauenwahlrecht. Ihm wäre es Recht, wenn Donald Trump die US-Republik vernichtet und dann sein langjähriger Zögling, der jetzige, katholische Vizepräsident J. D. Vance als Reichs-Monarch von seinen Gnaden auf den Thron eines nordamerikanischen Imperiums käme.
Ver-rückt? Ja, Freund-Feind-Dualismus führt in Verschwörungsglauben und Wahnsinn
Mir ist bewusst, wie verrückt dies für normale Leute – und gerade auch dialogisch-monistische Religiöse – klingt. Weil es das auch ist. Es ist purer Dualismus, der die Bibel, das Christentum und das Judentum und auch jede vernünftige Philosophie auf den Kopf stellt. Der Katechon-Glauben definiert sich von einem Feindbild her, dem Antichristen, und verehrt im Ergebnis Tyrannen, also die biblischen “Menschen des Frevels”. Genau das, wovor der ursprüngliche, biblische Text eigentlich warnte, wird von meist fossilen Katechon-Faschisten jetzt erstrebt.
“Okay, Michael – so weit die Religionsgeschichte. Aber was sagst Du denn persönlich als Christ dazu?”
Aus meiner persönlichen Sicht als evangelischer Christ sollten biblische Texte – auch der christlichen Traditionen – niemals ohne Berücksichtigung der jüdischen Wurzeln ausgelegt werden. Und demnach ist völlig klar, dass die zitierte Schrift vor tyrannischen und lügnerischen Menschen warnt, die schon damals Mitwelt und Menschheit ins Unglück stürzten.
Der Katechon verkörpert sich daher für mich in jenen Menschen, die der Tyrannei und Lüge wehren – für dialogischen Monismus und also Religionsfreiheit und Dialog, für Demokratie, Gewaltenteilung und Wissenschaft eintreten. Ich denke dabei an Menschen wie den mutigen NS-Gegner Dietrich Bonhoeffer (1906 – 1945).
Genau das sagt übrigens auch der Text, wenn man ein bisschen weiterliest. In 2. Thessaloniker 2, 9-12 heißt es:
“Der Frevler aber wird kommen durch das Wirken des Satans mit großer Kraft und lügenhaften Zeichen und Wundern und mit jeglicher Verführung zur Ungerechtigkeit bei denen, die verloren werden.
Denn sie haben die Liebe zur Wahrheit nicht angenommen, dass sie gerettet würden.
Und darum sendet ihnen Gott die Macht der Verführung, dass sie der Lüge glauben, auf dass gerichtet werden alle, die der Wahrheit nicht glaubten, sondern Lust hatten an der Ungerechtigkeit.”
Wer nicht bereits dualistisch ist, erkennt hier die Warnung vor Tyrannen wie Adolf Hitler (1889 – 1945) und Josef Stalin (1878 – 1953), vor Lügnern und Faschisten, vor gierigen Fossilisten und skrupellosen Leugnern von Wahrheit und Wissenschaft. Wer seinen dialogisch-monistischen Glauben an Gott gegen einen dualistischen Katechon-Reichsglauben umgetauscht hat, hat nach meiner persönlichen Einschätzung auch charakterlich falsch und schlecht gewählt.
Und dass auch islamische Kalifats- und nichtreligiöse Reichslehren ganz ähnliche Irrwege eingeschlagen haben, scheint mir ebenfalls evident und religionspsychologisch nicht überraschend zu sein. Ich meine: Ob wir selbst nun religiös sind oder nicht – durch die historisch-kritische Auseinandersetzung mit dem politisierten Katechon-Reichsglauben können wir den feindseligen Dualismus sehr vieler auch heutiger Menschen verstehen.
Quelle: Bibel-Zitate & Hinweise zur jüdischen Apokalyptik nach “Das neue Testament – Jüdisch erklärt. Lutherübersetzung”, Deutsche Bibelgesellschaft 2021, S. 458 – 459