Die ersten berüchtigten 100 Tage der neuen Regierung unter Bundeskanzler Merz und Vizekanzler Lars Klingbeil waren am 14. August vorbei, die Stimmung im Land scheint nicht besser geworden. In einer Forsa-Umfrage, alle anderen Umfragen geben ein anderes Bild, liegt erstmals die AfD vor der CDU, die SPD baute nach dem historisch schlechten Wahlergebnis im Januar von 16,4 Prozent weiter ab und liegt, je nach Umfrage, zwischen 13 und 15 Prozent.
Schaut man auf die Regierungsarbeit, dann erhebt sich der Eindruck, es ginge hauptsächlich weiter mit dem Kampf gegen grün-linke Politik. So verbietet Wolfram Weimer das Gendern, Alexander Dobrindt konzentriert sich auf das Thema Migration, gibt Millionen für die Grenzüberwachung aus und reklamiert für sich den Rückgang der Asylbewerberzahlen, der aber schon vor Regierungsantritt festzustellen war.
Katherina Reiche kippt die Energiewende zugunsten der Öl- und Gaskonzerne und Friedrich Merz stellt die Marktfähigkeit von Elektroautos infrage. Auch die Wahl der SPD-Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht wurde, auch aus der Regierungskoalition heraus, torpediert. Belassen wir es bei diesem Eindruck.
Wir sprachen am 28. August 2025 mit Holger Mann. Der 46-Jährige ist gebürtiger Dresdener, SPD-Mitglied und sitzt seit 2021 für den Wahlkreis Leipzig I im Bundestag. Zuvor war er auch viele Jahre Landtagsabgeordneter in Sachsen und bis Mai 2025 Vorsitzender der SPD Leipzig.
Herr Mann, am Wahlabend sagten Sie: „An einem Abend, wo die SPD ihr historisch schlechtestes Ergebnis haben kann, wie sollen wir da zufrieden sein?“ Die SPD ist wieder in der Regierung, die Umfragewerte gehen weiter zurück, wie zufrieden sind Sie heute?
Zufriedenheit ist, glaube ich, keine Kategorie für jemand, der etwas bewegen will. Aber es ist schon so, dass wir in diesen etwas mehr als 100 Tagen jetzt einiges auf den Weg gebracht haben. Sehr bekannt ist, dass wir mit einer Verfassungsänderung an den Start gegangen sind, die die Möglichkeit bietet, dass wir Infrastruktur und Funktionsfähigkeit des Staates nach vorne entwickeln. Das wird jetzt in intensiven Beratungen konkretisiert.
Wir haben innerhalb von wenigen Wochen einen Bundeshaushaltsentwurf vorgelegt, obwohl die Bundesregierung noch keine 50 Tage im Amt war. Und gerade eben werden zwei Haushalte parallel beraten. Also es ist nicht so, als würden wir nicht arbeiten. Aber wie es immer so ist: Das, worauf man sich einigt oder das, was zum Kerngeschäft gehört, ist häufig im Hintergrund und kleine Reflexionen.
Sie sprachen jetzt Dinge wie Gendersternchen an. Die, glaube ich, sind das Geringste, was die Menschen gerade bewegt. Die haben aber Öffentlichkeit. Das ist schade.
Unter der Regierung Scholz wurde das Sondervermögen Infrastruktur beschlossen, mit den Stimmen der SPD. Es gibt einen Gesetzentwurf von Juli 2025 „Etat 2025: Sondervermögen Infrastruktur und Klimaneutralität“, wird der nun bald beschlossen? Anders gefragt: Geht es endlich los mit den versprochenen Investitionen?
Am Ende ist es natürlich ein Gesetz, das der Haushaltsgesetzgeber beschließen muss. Es gibt Anhörungen im Regierungsverfahren und wir werden jetzt, nachdem es ja auch schon eingebracht ist, sicherlich noch eine Anhörung im Parlamentsverfahren erleben. Dort wird es nochmal Hinweise geben. Tatsächlich gibt es verschiedene Ideen, das Sondervermögen noch mal intelligenter und nachhaltiger zu nutzen.
Ich erlebe jetzt auf sächsischer Ebene, dass die Kommunen mit dem Land ringen. Wer hat welche Anteile und darf es wofür ausgeben? Das ist ja auch nicht irrelevant, weil man hat tatsächlich vielleicht einmal in einer Dekade die Möglichkeit solche Finanzdimensionen zu bewegen. Die sollen dann auch einen positiven Effekt auf Wirtschaft, aber auch auf Modernisierung der Infrastruktur haben.
Ich glaube, da geht es darum, dass man da keine Schnellschüsse machen soll und gleichzeitig haben wir uns fest vorgenommen, dass ab Ende des Jahres begonnen werden kann dieses Sondervermögen auszugeben.
Sie sagten: keine Schnellschüsse. Es entstand ja der Eindruck, dass schon wieder etwas missbräuchlich verwendet werden soll. Ich denke da an die Mütterrente, für die plötzlich Geld da war. Ist das auch wieder nur ein Eindruck oder gibt es da Verschiebungen gegenüber dem ursprünglichen Ansatz?
Ich bin ja im Ressort Forschung und seit Neuestem im Ressort Kultur im Ausschuss tätig. Es gab natürlich den Versuch vieler Ministerien, möglichst viele Investitionen im Sondervermögen anzumelden. Da kann ich nur berichten, dass das Finanzministerium es niemandem einfach gemacht hat, dass da schon sehr darauf geachtet wurde, dass es a) wirkliche Investitionen sind und b) eine Zusätzlichkeit da ist. Das macht nicht jeden zufrieden.
Gerade ringen wir als Kulturpolitiker darum, dass wir eine Möglichkeit bekommen im Bereich Kultur Investitionen zu tätigen. Es ist sicherlich kein Wunder, dass viele versuchen, sich Spielräume zu schaffen. Aber es ist eben nicht so, dass der Plan ist, das Sondervermögen umzurubeln. Sondern es gibt eben einen hohen Investitionsbedarf in nahezu jedem Ressort, daraus entsteht natürlich auch eine Konkurrenz der Interessen. Dieser kann nur mit einer Prioritätensetzung beigekommen werden.
In der Haushaltsdiskussion (Bundestag 24.06.25) heißt es: „Von der SPD-Fraktion wurde positiv bewertet, dass die Aufstellung des Haushalts ohne große öffentliche Diskussion erfolgt sei.“ Bedeutet das, dass die SPD keine Öffentlichkeit wünscht?
Nein, damit ist der Haushalt der Bundesregierung gemeint. Wir erleben ja, dass das eine oder andere Regierungsmitglied Ideen für andere Ressorts öffentlich äußert. Es wäre eigentlich guter Regierungsstil, dass das am Kabinettstisch, sozusagen auf dem Weg der Ressortabstimmung, die ja häufig in drei Runden, mehrere Wochen, teilweise Monate läuft, geschieht und nicht alles über die Medien ausgetragen wird.
Das ist, glaube ich, damit gemeint gewesen, dass der Bundeshaushalt in Ausschusssitzungen, in Parlamentsvorlagen, in Änderungsanträgen und nicht zuletzt in mindestens zwei Bundestagsdebatten debattiert wird. Es ist gut und richtig so, dass es unser höchstes Recht als Bundestag und als Bundestagsmitglieder ist, diesen Haushalt einzulösen.
Lars Klingbeil sagte: „Wir haben verabredet, dass wir im Bereich des Bürgergeldes und des Sozialstaats auch zu Veränderungen und zur Einsparung kommen.“ Ist das die Verabschiedung vom Sozialstaat, wie von Friedrich Merz erwartet?
Nein, es ist nicht die Verabschiedung vom Sozialstaat. Wir haben das auch schon deutlich gemacht, auf allen Positionen, nicht nur Klingbeil, sondern auch Bärbel Bas, dass wir den verteidigen werden. Wir sehen das nicht nur als unsere historische, sondern auch aktuelle Aufgabe. Aber was ich auch wahrnehme ist, gerade in Gesprächen mit vielen kommunalen Spitzen, dass es zunehmend schwierig wird einen Sozialstaat, der in vielen Details sehr differenziert ausgearbeitet ist, zu untersetzen und dort auch wirklich seinen Pflichten nachzukommen.
Vor diesem Hintergrund sind auch wir aufgerufen, darüber nachzudenken, wie man diese Pflichten und Lasten so austariert, dass es leistungsfähig ist und dass die, die arbeiten gehen und über ihre Beiträge und Steuern diesen Sozialstaat finanzieren, nicht den Eindruck haben, dass es dabei ungerecht zugeht. Gleichzeitig ist es kein Geheimnis, dass die Union behauptet, man könne Milliarden aus dem Bürgergeld rauskürzen. Dagegen haben wir uns immer argumentativ gewandt, weil es faktisch falsch ist.
Aber nichtsdestotrotz ist es so, dass man sich immer die Frage stellen kann: Können Systeme effektiver sein, kann man sich stärker danach ausrichten, dass man Menschen auch wirklich die Chance gibt und dabei hilft, wieder in den ersten oder zumindest zweiten Arbeitsmarkt einzusteigen, damit diese selbst für ihren Unterhalt sorgen können?
Eines der zur Zeit wichtigen Themen ist der Krieg in der Ukraine. Wie stellt sich die SPD zu eventuellen Sicherheitsgarantien mit deutscher Beteiligung? Wird es ein „robustes Mandat“ geben?
Das ist ehrlich gesagt eine Debatte, die bei uns noch im Werden ist. Es gibt Positionen auf beiden Seiten. Ich glaube, es ist klar, dass wenn wir in der Ukraine einen dauerhaften Frieden sehen wollen, braucht die Ukraine Sicherheitsgarantien, die nicht darauf beruhen, dass sie von Russland abhängig ist.
Insofern wird es hier Sicherheitsgarantien auch im Kontext der NATO, lieber wäre uns sicherlich die UN, wenn dort Mehrheiten zu finden sind, dafür geben müssen, damit mögliche Kompromisslinien oder auch demilitarisierte Zonen überwacht werden können. Ob wir als Deutsche, gerade mit Blick auf unsere Geschichte, die Ersten sind, die mit eigenen Truppen auf ukrainischen Boden stehen sollten, da habe ich durchaus Bauchschmerzen.
Aber gleichzeitig beißt die Maus keinen Faden ab. Wir sind die größte Volkswirtschaft in Europa. Wir haben eine der größten Armeen, die wir gerade modernisieren. Ich kann mir nicht ganz vorstellen, dass es ohne einen deutschen Beitrag möglich ist, diese Sicherheitsgarantien zu unterlegen.
Letzte Frage: Wird die SPD, um den Koalitionsfrieden zu wahren und die Regierung handlungsfähig zu halten, ihre sozialdemokratischen Prinzipien über Bord werfen? Wie sehen Sie das?
Das klingt sehr populistisch und zugespitzt.
Es ist bewusst zugespitzt formuliert.
Also erstmal: Wir haben hart gerungen in Koalitionsgesprächen und da sind ein paar schwierige Kompromisse auch für uns dabei. Nicht nur für die Union, die da mit einer Erwartungshaltung kam, die ich, wie schon gesagt, teilweise als unrealistisch eingeschätzt habe. Vielleicht auch, weil man eben nicht in der Regierungsverantwortung war und sehen musste, wie schwierig es ist, Haushaltsmittel für bestimmte Projekte zu mobilisieren.
Deswegen ist das erstmal das gemeinsame Dokument. Ich kann den Koalitionspartnern nur raten, dass man sich erstmal darauf konzentriert, das was dort vereinbart wurde, abzuarbeiten. Das ist genügend und herausfordernd genug. Gerade weil wir weiterhin einen Krieg in der Ukraine haben, mit allen Folgen, weil wir die Herausforderung des Zollstreits mit den USA und einer schwierigen wirtschaftlichen Lage haben, die sich noch nicht verbessert.
Wo es nur zarte Indizien gibt, dass es auch wieder Wirtschaftswachstum geben könnte. Deswegen, glaube ich, ist es Quatsch, wenn sich Koalitionspartner gerade über weitere Aufgaben streiten, sondern man muss erstmal das umsetzen, was nötig ist. Da haben unsere Minister, sei es mit den Haushalten, sei es mit dem Wachstumspaket, sei es mit dem Bauturbo, sei es mit der Mietpreisbremse, gesetzgeberisch vorgelegt.
Ich würde sagen, da haben auch die Unionsministerien durchaus noch etwas zu tun und können jetzt nach 100 Tagen zeigen, dass sie gewillt sind, gemeinsam diesen Koalitionsvertrag umzusetzen.
Herr Mann, ich bedanke mich für das Gespräch.