Der 215 Minuten lange „Der Brutalist“, inzwischen ausgezeichnet mit drei Oscars für Kamera, Filmmusik und Hauptdarsteller Adrien Brody, sollte zunächst 28 Millionen Dollar kosten. Ein ausgemachtes Schnäppchen für ein auf 70mm-Analogmaterial gedrehtes Historien-Epos von derart gewaltigen Ausmaßen. Mit Martin Scorsese als Regisseur wäre man bei einem ähnlichen Projekt sicherlich schnell jenseits der 200-Millionen-Marke gelandet.
Aber dann fiel die Finanzierung – unter anderem wegen der Covid-Pandemie – kurz vor Drehbeginn in sich zusammen. Nach einem erneuten Anlauf wurde der Film deshalb für nur knapp unter zehn Millionen Dollar gedreht. Das ist nicht weniger als absoluter Wahnsinn und muss für den Regisseur Brady Corbet und seine am Drehbuch beteiligte Ehefrau Mona Fastvold eine jahrelange, entbehrungsreiche Kraftanstrengung bedeutet haben.
Weil‘s so schön war, gleich nochmal
Also jetzt erst mal durchatmen? Pustekuchen! Exakt ein Jahr nach „Der Brutalist“ feiert bereits das nächste Projekt des Ehepaars, diesmal mit Mona Fastvold („The Sleepwalker“) als Regisseurin und mit Brady Corbet als Co-Autor, seine Weltpremiere: erneut eine epische, historische, Kontinente überspannende Geschichte; erneut auf analogen 70mm gefilmt; erneut für weniger als zehn Millionen Dollar an lächerlich wenigen Tagen (34) gedreht. Zwar ist „The Testament Of Ann Lee“, ein Biopic über die titelgebende Gründerin der Shaker-Bewegung, nur 130 statt 215 Minuten lang …
… aber dafür gibt es ekstatische Musical-Nummern und spektakuläre Sequenzen auf einem Segelschiff auf stürmischer See. Kein Wunder also, dass Hauptdarstellerin Amanda Seyfried gleich zu Beginn von ihrer Regisseurin gewarnt wurde, dass ihr ein „sehr unbequemes Erlebnis“ bevorstehe. Aber wie bei „Der Brutalist“ spürt man auch bei „The Testament Of Ann Lee“ im besten Sinne den ganzen aufopfernden Wahnsinn, der in seine Schöpfung hineingeflossen sein muss – selbst wenn das Ergebnis diesmal noch deutlich sperriger ausfällt.
Proton Cinema
„Mamma Mia!“-Star Amanda Seyfried hat zwar Musical-Erfahrung – aber so etwas wie „The Testament Of Ann Lee“ ist auch für sie eine völlig neue Erfahrung!
Bei den Recherchen für ihren vorherigen Film, das feministische Historien-Drama „The World To Come“, stieß Mona Fastvold auf einen Shaker-Hymnus. Die Lieder der christlich-utopischen Shaker-Gemeinschaft sind bewusst einfach gehalten, damit jeder in der Gemeinde teilnehmen kann. Zugleich eignen sich die Melodien aber perfekt, um sich bei ständiger Wiederholung, unterstützt von oft an Zuckungen erinnernden Tanzbewegungen (deshalb „Shaker“), in eine religiöse Ekstase hineinzusteigern. Das wirkt mitunter fast schon orgiastisch, was vor allem deshalb ironisch ist, weil die Shaker ansonsten eine streng zölibatäre Gemeinschaft sind.
Gegründet wurden die Shaker 1736 in Manchester. Nachdem ihre vier Kinder alle noch vor ihrem ersten Geburtstag verstorben sind, kommen Ann Lee (Amanda Seyfried) bei einer Haftstrafe wegen Ruhestörung (im Rahmen eines Gottesdienstes der „Shaking Quäker“) göttliche Visionen. Sie strebt nach einer Gemeinschaft, in der die Fleischeslust keine Rolle mehr spielt, Mann und Frau gleichberechtigt sind, jeder durch harte, nach Perfektion strebende Arbeit Gott näherkommt. Allerdings scheint dafür in Großbritannien kein Platz zu sein. Also tritt Ann Lee gemeinsam mit einem Dutzend Anhänger*innen die strapaziöse Reise nach New York an…
Vor allem eine körperliche Erfahrung
Selbst wenn die Deutung naheliegt, dass Ann Lee auch deshalb auf das Zölibat bestand, weil ihr Schmied-Ehemann (Christopher Abbott) auf SM-Sex stand und sie sich nach vier schmerzvollen Kindstoden keine weitere Schwangerschaft mehr antun wollte, verzichtet Mona Fastvold auf jede platte Psychologisierung. Stattdessen erzählt sie den Gründungsmythos der Sklaverei und Gewalt ablehnenden Shaker-Sekte (zur Hochzeit: 6.000 Mitglieder, von denen im Jahr 2025 nur noch zwei übriggeblieben sind) relativ geradlinig und in einem durchaus bewundernden Gestus durch.
Aber begonnen hat ja wie gesagt alles mit einem Shaker-Hymnus – und so steht in „The Testament Of Ann Lee“ auch nie die historische Erzählung, sondern stets die viszerale Erfahrung des Lobpreisens im Zentrum (weshalb der Film von vielen Zuschauer*innen auch als einigermaßen sperrig bis regelrecht undurchdringlich empfunden werden dürfte): In kerzenlichtgetränkten 70mm-Aufnahmen, von denen man die meisten direkt im nächsten Museum aufhängen könnte, erleben wir die Shaker beim rhythmischen Tanzen, Zucken, Stöhnen und Kreischen.
Proton Cinema
Erst im Shaker-Glauben findet Ann Lee schließlich so etwas wie inneren Frieden.
Diese exzessive Ekstase (eure Kinobetreiber*innen unbedingt bitten, den Ton entsprechend aufzudrehen) springt auch auf das Publikum über. Das fühlt sich so intensiv an, als würde man direkt vor einer Gruppe Māori sitzen, die nur wenige Zentimeter entfernt ihren Haka aufführen. Oder wie ein Bad in der Kurve der isländischen Fußball-Nationalmannschaft, wo die Fans ihren Viking Thunder Clap anstimmen. So nah, zumindest rein körperlich, ist man der religiösen Erfüllung im Kino bislang selten gekommen.
Amanda Seyfried hat als Star von unter anderem zwei „Mamma Mia!“-Blockbustern bereits einige Musical-Erfahrungen gesammelt. Aber das hat nichts damit zu tun, was sie hier abliefert. Es ist eine rückhaltlose Tour-de-Force-Performance, die ohne doppelten Boden auskommt. Denn nicht nur bei den Gottesdiensten, auch bei der immer wieder erfahrenen Gewalt – vom Herausreißen blutüberströmter toter Babys aus ihrem Unterleib bis zu einem besonders brutalen Überfall auf die erste Shaker-Kolonie Niskayuna – steigert sich „The Testament Of Ann Lee“ immer wieder zu einem viszeralen Crescendo aus Leid und Erlösung, das einen nach gut zwei Stunden doch einigermaßen erschöpft wieder ausspuckt.
Fazit: Selbst wenn „The Testament Of Ann Lee“ noch eine Ecke sperriger ist als „Der Brutalist“, etablieren sich die kooperierenden Eheleute Mona Fastvold und Brady Corbet zunehmend als die neben Christopher Nolan radikalsten Analog-Filmemacher*innen unserer Zeit.
Wir haben „The Testament Of Ann Lee“ bei Venedig Filmfestival 2025 gesehen, wo er mit einer analogen 70mm-Kopie als Teil des offiziellen Wettbewerbs seine Weltpremiere gefeiert hat.