„Die Bilder sind wieder in der Galerie“, jubelte der Dichter Louis MacNeice 1945 über die Wiederkehr der Sammlung der National Gallery in London, die im Zweiten Weltkrieg zum Schutz vor Luftangriffen in unterirdischen walisischen Schiefergruben eingebunkert worden war. Die Rückführung war innerhalb von Tagen nach der deutschen Kapitulation eingeleitet worden. Am Trafalgar Square wurden die Meisterwerke von der Bevölkerung mit Freudenschreien empfangen.

Etwas mehr als hundert Jahre zuvor war der Standort für die nationale Gemäldesammlung an diesem Durchgangsplatz im Herzen der Stadt gewählt worden, um Menschen aus allen Schichten leichten Zugang zum bürgerlichen Kulturgut zu ermöglichen. Premierminister Peel argumentierte damals, dass die Finanzierung einer Nationalgalerie nicht nur Kunst und Wirtschaft fördern, sondern auch „die Bande der Einheit zwischen den reicheren und ärmeren Ständen des Staates festigen“ würde.

Sakrale Pracht im neugestalteten Sainsbury-Flügel der National Gallery: im Zentrum die Himmelfahrt Mariens von Matteo di GiovanniSakrale Pracht im neugestalteten Sainsbury-Flügel der National Gallery: im Zentrum die Himmelfahrt Mariens von Matteo di Giovannipicture alliance / empics

Die Freude über die Rückkehr der Bilder brachte die Grundidee der Sammlung als Kollektiveigentum (im Unterschied zu Staatseigentum) mit freiem Eintritt zum Ausdruck. Bezeichnend dabei ist, dass die Gemälde zu dem ausdrücklichen Zweck erworben wurden, die Geschichte der westlichen Malerei am Beispiel heraus­ragender Meisterwerke zu erzählen. MacNeice zelebrierte die Wiedervereinigung der Öffentlichkeit mit ihren Bildern in Versen über die Wirkung der alle Zeit transzendierenden Alten Meister, die in ihrer Vielfalt von sinnlichen, geistigen und spirituellen Impulsen „Hunderte von Fenstern auf eine lebendige, aber unveränderliche Welt“ öffneten. Die Könige seien aus ihren Höhlen zurück, „erfrischt von Dunkelheit, mit Farbe, Meisterschaft und Unwägbarkeiten bewaffnet, / bewaffnet mit Uccellos Lanzen, Bierkrügen, Drachenzungen, Pfauenaugen, funkelndem Schmuck, Volants und Rüschen“.

Glücksgefühl der Neuentdeckung

Achtzig Jahre später hat nun die Wiedereröffnung des Sainsbury-Flügels der National Gallery nach mehr als zweijährigem Umbau und einer triumphalen Umhängung der Sammlung zum Abschluss der Zweihundertjahrfeiern des Museums ein ähnliches Glücksgefühl der Wieder- und Neuentdeckung verbreitet. Es bedarf mehrerer Besuche, um das Ausmaß dieser gründlich durchdachten Präsentation der Sammlung zu begreifen, die durch ungewohntes Nebeneinander frische Einblicke in den fortlaufenden länder-, schulen- und epochenübergreifenden Dialog der Malerei gibt. Eine frappierende Zahl von Neuerwerbungen, restaurierten und anders gerahmten Bildern sowie von mehr als 120 Leihgaben steigert die Wirkung.

Während der Arbeiten waren zeitweilig mehr als vierzig Prozent des Museums geschlossen. Besucher mussten sich mit langen Schlangen abfinden, weil nur zwei der drei Eingänge geöffnet waren. Obwohl einige Schlüsselwerke in den beschränkten Platz an den Wänden des Hauptbaus eingezwängt wurden, waren die Bilder der Frührenaissance, die sonst im Sainsbury-Flügel ausgestellt sind, größtenteils nicht zu sehen. Bedenken gegenüber den architektonischen Eingriffen am kaum mehr als dreißig Jahre alten Anbau des amerikanischen Architektenpaares Robert Venturi und Denise Scott Brown steigerten den Unmut.

Alles neu: drei Jahre hat die Umgestaltung der National Gallery in Anspruch genommenAlles neu: drei Jahre hat die Umgestaltung der National Gallery in Anspruch genommenEPA

Die National Gallery begründete das Projekt mit den unzulänglichen Vorrichtungen für den Empfang von jährlich sechs Millionen Besuchern in einer Institution, die auf ganz andere Verhältnisse zugeschnitten war. Aus dem Wettbewerb um die Aufwertung des ursprünglich als Nebeneingang konzipierten Entrées zum Sainsbury-Flügel zu einer den neuen musealen Herausforderungen angemessenen Empfangshalle für die gesamte Galerie ging Annabelle Selldorf als Siegerin hervor. Mit ihrem New Yorker Büro hat sich die gebürtige Kölnerin unter anderem durch nachdenkliche Interventionen in Museen, wie jüngst der viel gepriesenen Renovierung der Frick Collection, derart profiliert, dass die Zeitschrift „Time“ sie zu den hundert einflussreichsten Figuren des Jahres gezählt hat.

Aber als die Entwürfe vorgestellt wurden, prasselten Salven bösartiger Kritik. Eine mächtige Lobby reagierte so, als würde ein Sakrileg an einem denkmalgeschützten postmodernen Bau von internationalem Rang begangen. Bemängelt wurde vor allem die Zerstörung des von Venturi Scott Brown beabsichtigten Aha-Effekts des Treppenaufgangs mit seinen in Stein gemeißelten Namen der kanonischen Meister aus der Zeit vor 1500, der aus dem gedrungenen, kryptaähnlichen Erdgeschoss in die hellen Ausstellungsräume führt und mit perlgrauen Gliederungselementen aus pietra serena die Architektur von Brunelleschi beschwört. Denise Scott Brown selbst wirkte kräftig mit im Chor der Kritiker. Sie fauchte, dass Selldorfs Pläne den Flügel wie einen Zirkusclown im Tutu erscheinen ließen – eine seltsame Metapher für die subtil zurückgenommene Ästhetik der deutschen Architektin.

Kunst für jedermann

Die kommt in dem ebenso respektvollen wie wirksamen Umbau des Foyers zur vollen Geltung. Der große Buchladen und die Garderobe sind verlegt, das Dickicht der massiven Säulen ist ausgelichtet worden. Ganz im Sinne des 1824 vom Parlament verabschiedeten Gründungspostulats der National Gallery, dort die Kunst für jedermann zugänglich zu machen, wirkt die Eingangshalle nun wie die Erweiterung des öffentlichen Raumes ins Innere. Dazu tragen auch integrierte Metalldetektoren bei, die Taschendurch­suchungen verringern und dadurch reibungslosen Besucherfluss ermöglichen.

Das neue, hellere Treppenhaus des Sainsbury-FlügelsDas neue, hellere Treppenhaus des Sainsbury-FlügelsEdmund Sumner

Zwischen dem klassizistischen Hauptbau und dem zum Trafalgar Square hin angeschrägten Sainsbury-Flügel mit seinen ­ironisch-postmodernen Anspielungen hat Selldorf durch die Einebnung einer Rasenfläche einen kleinen Vorplatz gestaltet, der den Anbau stärker ins Ensemble inte­griert und die Besucher zum Eingang lenkt. Durch die Auswechslung getönter Scheiben gegen klares Glas, die Ent­fernung einer Ecke des Mezzanins und neue Deckenlichter dringt mehr Licht ins Entrée, in dem man sich unter anderem vor einem fast elf Meter breiten LED-Bildschirm mit Detailaufnahmen vor dem steilen Aufgang in die Galerien orientieren kann. Die Inspiration dazu kam von den hochauflösenden Rundum-LED-Displays, die Passanten am Ausgang jener U-Bahn-Station anziehen, an der Selldorf auf dem Weg zur National Gallery ausstieg.

Richard Long's Werk „Mud Sun“ im Sainsbury WingRichard Long’s Werk „Mud Sun“ im Sainsbury Wingpicture alliance / Anadolu

Wie vom Diesseitigen ins Jenseitige kletterte der Besucher beim Aufstieg zu den Bildern früher erst einmal Francesco Botticinis leuchtender „Mariä Himmelfahrt“ entgegen. Jetzt empfängt ihn am oberen Ende der Treppe Richards Longs eher düstere „Schlammsonne“ auf einer mehr als sechs Meter breiten gipsgrundierten Tafel, deren urzeitlichen Antrieb zur Kreativität suggerierende Markierungen eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart schlagen. Man kann diese Zeichensetzung auch als Sinnbild des Malens auffassen. Das neue Arrangement schenkt dem Herstellungsprozess denn auch größere Aufmerksamkeit, unter anderem mit einem Raum über die unterschiedliche Verwendung von Gold als Ausdruck des Kostbaren und Göttlichen, die einander so verschiedene Künstler wie Masaccio, Botticelli, Hans Memling, Antonello da Messina, Michael Pacher und Bartolomé Ber­mejo zusammenführt.

Neben derartigen thematischen Akzenten in der chronologische Darstellung, die mal ein Schlaglicht auf einen Künstler wie Rembrandt, Gainsborough oder Monet wirft, mal auf Genres wie Stillleben- oder Landschaftspastellmalerei fokussiert oder ein Phänomen wie die Grand Tour beleuchtet, werden auch die Zwecke und das Umfeld veranschaulicht, für die diese Bilder geschaffen wurden.

Im Sainsbury-Flügel ist die zentrale Raumflucht wie ein Kirchenschiff gedacht. An einem Ende hängt das riesige Jacopo di Cione zugeschriebene Polyp­tychon mit der Krönung der Jungfrau, dessen zwölf Tafeln jetzt von Peter Schade, dem unermüdlichen Leiter der Rahmenwerkstatt, neu eingefasst worden sind (in einem als die authentischste Nachbildung eines gotischen Polyptychon-Rahmens bezeichneten Bildhalter). Und am anderen Ende schließt das Martyrium des heiligen Sebastians von den Brüdern Pollaiuolo die Enfilade ab, an der sich die Entwicklung der toskanischen Altarmalerei über hundert Jahre hinweg ablesen lässt. In den Seitenräumen hängen die für private Auftraggeber bestimmten Werke, darunter in einem der venezianischen Malerei gewidmeten Saal Albrecht Dürers kleine Tafel mit dem heiligen Hieronymus. Beispielhaft für die vielen aufschlussreichen Querverbindungen des neuen Arrangements veranschaulicht diese Nebeneinanderstellung den Einfluss Bellinis auf den Nürnberger Maler, wie denn überhaupt die Wechselwirkung zwischen nordalpiner und italienischer Malerei eindrucksvoll dargeboten wird.

Zu den größten Höhepunkten gehört im Hauptgebäude der prachtvolle Raum, der Tizians Gemälden gewidmet ist. Durch die Tür fällt in einer suggestiven Sichtachse der Blick auf Bronzinos Allegorie mit Venus und Amor, die erst mehrere Säle weiter im Parcours folgt. Anders als die Tate hat die National Gallery sich verjüngt, ohne das didaktische Niveau zu senken oder sich dem Zeitgeist zu beugen. Das ist ein Grund, sich zu freuen, wie es vor achtzig Jahren MacNiece tat: „Die alten Meister drehen ihre Kadenzen, flüstern und brüllen, Hunderte von Fenstern öffnen sich wieder auf eine lebendige, aber unveränderliche Welt.“