Cover: Jan Costin Wagner, "Eden"

Stand: 04.09.2025 06:00 Uhr

Nach zahlreichen Krimis hat Jan Costin Wagner dieses Genre hinter sich gelassen, aber um ein Verbrechen und seine Auswirkungen geht es auch in seinem Roman „Eden“ – und das ist absolut lesenswert!

von Andrea Gerk

Jan Costin Wagners Romane waren schon immer mehr psychologische Tiefenbohrungen als klassische „Whodunnit“-Kriminalromane. In Büchern wie zuletzt „Einer von den Guten“ ging es weniger um die Aufklärung von Verbrechen, als darum, was diese anrichten bei jenen, die etwa sexuellen Missbrauch überlebt haben oder bei Hinterbliebenen der Opfer.

Ein Konzertabend endet in einer Tragödie

In Wagners neuem Roman „Eden“ stehen die Angehörigen eines Mordopfers nun im Zentrum der Erzählung: Es geht um die Eltern der zwölfjährigen Sofie, für die ein Traum in Erfüllung geht, als ihr Vater Markus sie und ihre Cousine Lotte spontan mit Karten für ein Konzert ihrer Lieblingssängerin überrascht:

Sofie steht auf, ihr ist schwindlig, sie hält sich an der Balustrade fest und stimmt in Lottes Lachen ein, bewegt sich in ihrem Rhythmus, so wie all die anderen Menschen in der Halle, im Innenraum ist die Hölle los, also im positiven Sinn, gute Hölle, göttliche Hölle.

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Doch nach dem Konzert kippt alles in einen teuflischen Abgrund: Ein Selbstmordattentäter sprengt sich in der Vorhalle in die Luft und Sofie, die ein wenig hinter Lotte und ihrer Mutter zurückgeblieben war, um das Konzert nachwirken zu lassen, kommt ums Leben. Ihr Vater Markus, der in einem Café gewartet hat, läuft in die Halle und findet seine leblose Tochter, wie er sich später erinnert:

Er kniet neben Sofie. Nicht heiß, nicht kalt, nichts von alledem, neutral, er ist neutralisiert, er befindet sich in einer Zwischenwelt, zwischen innen und außen, in diesem Zwischenraum, in dem nur das Bild ist, das sich bietet, einfach nur ein Bild, das keine Gültigkeit hat, weil es das Fassungsvermögen übersteigt. So ist es. So muss er es erklären, er muss sich das merken, sollte er irgendwann mit Kerstin darüber sprechen.

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Geteilte Trauer: Jeder verarbeitet den Verlust anders

Aber die trauernden Eltern driften immer mehr auseinander, und jeder von ihnen versucht, auf ganz andere Weise mit dem unbeschreiblichen Verlust und der Trauer zurechtzukommen. Kerstin verschweigt ihrer dementen Mutter den Tod der Enkelin und findet einen gewissen Trost darin, weil sie dadurch zumindest bei ihren Besuchen im Pflegeheim das Gefühl hat, Sofie wäre noch am Leben. Markus dagegen sammelt jede Information über das Attentat, die er finden kann. Er sucht die Wohnung und die Familie des Attentäters Ayoub auf, und während Verschwörungstheoretiker und rechte Politiker ihren Hass verbreiten, versucht er noch als Gast in einer Talkshow gegenzusteuern:

Bei Sofie sein. „Ich will damit sagen, ich hasse den Attentäter, ich hasse ihn, ich hasse alles an ihm, aber der Hass, den ich empfinde, hilft mir nicht. Er lässt mich nichts erkennen. Ich muss andres betrachten. Ich will …“ Bei ihr sein, am Bett sitzen, etwas vorlesen, wie damals, eine Geschichte, die Sofie sich aussucht. „Ich will nicht, dass der Attentäter einen Namen hat, aber er hat einen. Wir müssen anders betrachten, wir müssen doch zum Kern vordringen, auch wenn es schwerfällt, und was auch immer wir dann begreifen werden, es wird wichtig sein, denn am Ende sind es Menschen (…) die Menschen das Schlimmste antun.“

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„Eden“ dringt in menschliche Psychen vor

Sehr präzise und poetisch findet Jan Costin Wagner eine Sprache für das Unsagbare: den Schmerz und die Angst von Menschen in außergewöhnlichen Grenzsituationen. Wie in einem Kaleidoskop wechselt er dabei immer wieder die Erzählperspektive, sodass das Geschehen durch Kerstin und Markus, aber auch durch Sofies Schulfreund Tobias und einmal auch durch den Attentäter Ayoub sichtbar wird.

Wie in seiner Trilogie um den pädophilen Kommissar Ben Neven, der in einem Fall ermittelte, in den er quasi selbst verwickelt war, geht Jan Costin Wagner mit der Täterperspektive ein gewisses Risiko ein. Doch so sensibel und intelligent wie dieser Autor sich an solche Abgründe herantastet, gelingt ihm dieser ungewöhnliche Zugang auf überzeugende Weise. „Eden“ ist ein berührender, hellsichtiger und packender Roman, der – indem er tief in die Psychen einzelner Menschen vordringt – sehr viel über unsere Gesellschaft, ihre Brüche und tiefen Risse erzählt. Absolut lesenswert!

Cover: Jan Costin Wagner, "Eden"

Eden

von Jan Costin  Wagner

Seitenzahl:
320 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
Kiepenheuer & Witsch
ISBN:
978-3-86971-259-8
Preis:
24 €

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Romane