Die deutsche Chemieindustrie ist so schwach wie seit mehr als 30 Jahren nicht mehr. Die Kapazitätsauslastung brach laut Angaben des Branchenverbands VCI im zweiten Quartal massiv ein und erreichte nur noch 71,7 Prozent – der niedrigste Wert seit 1991. Erst ab einer Auslastung von rund 82 Prozent gelten die Anlagen als rentabel.
Vor allem Ostdeutschland ist von der Krise betroffen. Erst vor wenigen Wochen warnten Chemie-Experten gegenüber der Berliner Zeitung, dass die angekündigten Werksschließungen in Schkopau (Sachsen-Anhalt) und Böhlen (Sachsen) massive Jobverluste nach sich ziehen könnten. Die Chemieindustrie zählt zu den tragenden Säulen der ostdeutschen Wirtschaft. Große Standorte wie Leuna, Schkopau oder Bitterfeld-Wolfen prägen ganze Regionen und sichern dort Tausende Arbeitsplätze – nicht nur in den Werken selbst, sondern auch bei Zulieferern und Dienstleistern.
Allein in Sachsen-Anhalt arbeiten mehr als 26.000 Menschen in der Branche. Wie reagieren die Unternehmen im Osten auf die Chemie-Krise?
Expertin: „An einem Chemiearbeitsplatz im Osten hängen drei weitere“
Nora Schmidt-Kesseler, Hauptgeschäftsführerin des Landesverbands Nordost, bringt die Stimmung in der ostdeutschen Chemiebranche auf den Punkt: „Die Hütte brennt“, sagt sie auf Anfrage der Berliner Zeitung. Strukturelle Herausforderungen belasten die Unternehmen massiv, erklärt die Chemieexpertin. Sie warnt: „Hohe Energiekosten, überbordende Bürokratie und die Zollpolitik von Donald Trump bedrohen unsere Wettbewerbsfähigkeit.“ Besonders dramatisch seien die geplanten Dow-Schließungen in Schkopau und Böhlen. Rund 500 Menschen würden dort ihre Jobs verlieren – „und in Ostdeutschland hängen an einem Chemiearbeitsplatz drei weitere“.
Insbesondere in Leuna herrscht Alarmstimmung. „Die Zahlen des VCI zeigen den realen Zustand der Branche“, sagt ein Sprecher der InfraLeuna GmbH, die den Chemiestandort in Sachsen-Anhalt betreibt. Stilllegungen und Standortschließungen zeigten, wie ernst die Lage sei. „Viele aus dem Markt gehende Anlagen fehlen in den Wertschöpfungsketten, schaffen neue Abhängigkeiten und kosten lokale Arbeitsplätze.“ Vor allem in der Basischemie, bei Kunststoffen und Düngemitteln verschärfen Kostendruck und billige Importe die Lage. „Die Rahmenbedingungen in Deutschland stimmen nicht – Investitionen werden zurückgestellt“, kritisiert der InfraLeuna-Sprecher.
Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff, und Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (beide CDU) werden am 28. Juli 2025 durch die Bioraffinerie im Chemiepark Leuna geführt.Hendrik Schmidt/dpa
Chemiestandort Leuna fordert von der Politik klare Schritte
An die Politik richten beide Stimmen deutliche Erwartungen. Schmidt-Kesseler betont: „Die Unternehmen brauchen jetzt verlässliche Energiepreise, Investitionssicherheit und weniger Regulierung.“ Es müsse Schluss sein mit endlosen Genehmigungsverfahren. Auch InfraLeuna fordert schnelles Handeln: „Energiekosten und Regulierung sind die größten Defizite – von der Stromsteuer bis zu den Netzumlagen.“ Hier brauche es sofort eine Revision. Zwar habe die Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) in Leuna Verständnis signalisiert, so der Sprecher: Entscheidend sei allerdings , dass „den Worten jetzt auch sichtbare Taten folgen“.
Trotz aller Dramatik herrscht kein völliger Pessimismus. „Eine spektakuläre Aufholjagd ist absolut notwendig – und sie ist auch möglich“, sagt Schmidt-Kesseler. InfraLeuna stimmt zu: „Wenn der politische Wille da ist und die Maßnahmen vernünftig kommuniziert werden, schaffen wir das“, erklärt der Sprecher. „Aber es muss schnell und deutlich gehandelt werden – auch mit unpopulären Schritten.“
Chemiechef warnt: „Insolvenzen nehmen zu, Arbeitsplätze gehen verloren“
Auch VCI-Hauptgeschäftsführer Wolfgang Große Entrup warnt: „Seit vier Jahren sind unsere Anlagen nicht rentabel ausgelastet. Insolvenzen nehmen zu, Arbeitsplätze gehen verloren.“ Zwar habe die Bundesregierung zuletzt erste Schritte wie die Senkung der Stromsteuer angekündigt, doch sei davon bislang nichts spürbar. „Die Standortkrise lässt sich nicht mit Worten beheben, nur mit schnellen Taten“, betont er. Ohne sinkende Kosten und weniger Bürokratie gebe es keine Investitionen – und ohne Investitionen auch keine Zukunft.
Das Fazit ist eindeutig: Vor allem in Ostdeutschland steht die Chemieindustrie am Scheideweg. Noch setzen die Unternehmen auf eine Trendwende – doch die Geduld ist endlich. „Wir brauchen Wirtschaftswachstum, wir brauchen Mut und wir brauchen positive Aufbruchstimmung“, fordert Schmidt-Kesseler. Ob die Politik diesen Neustart liefert, ist offen.
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