Die Nacht vom 5. auf den 6. September 2015 war historisch. Im ehemaligen Pflegeheim Haus Martinus hatten sie nur ein paar Stunden Zeit, sich auf 126 Flüchtlinge vorzubereiten.

Der Anruf des Regierungspräsidiums Stuttgart kam bei der Caritas Stuttgart am Samstag, 5. September. Gerade hatte die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel entschieden, die Grenze nicht zu schließen und die Flüchtlinge von Österreich nach Deutschland einreisen zu lassen. Doch nun brauchte es Unterkünfte für die Menschen. Innerhalb weniger Stunden wurde im eigentlich stillgelegten Pflegeheim Haus Martinus eine Flüchtlingsunterkunft eingerichtet. Viele der Mitarbeiter machten Überstunden oder fuhren Doppelschichten. Einer, der die Menschen damals in Empfang nahm, ist der Sozialwissenschaftler Arasch Hafezi (53).

Herr Hafezi, war die Nacht vom 5. auf den 6. September 2015 eine besondere Nacht?

Hafezi: Ja, es war für mich ein besonderer Abend. Für mich war aber das ganze Jahr 2015 besonders. Ich habe nicht nur in dieser Nacht im Haus Martinus Flüchtlinge aufgenommen. Ich habe zusammen mit Kolleginnen auch einige der jesidischen Frauen aufgenommen, die im September 2015 nach Baden-Württemberg gekommen sind. Aber klar, die Nacht war eine besondere.

Arasch Hafezi war in der Nacht im Dienst. Foto: Hugh Hinderlider

Hatten Sie damals schon das Gefühl, dass es auch eine historische Nacht ist?

Ja. Das wusste ich. Ich bin hier seit 23 Jahren und habe erlebt, wie die Flüchtlinge aus Bosnien kamen. Aber 2015 war anders. Auch weil so viele Menschen geholfen haben.

Hatten Sie denn überhaupt Dienst? Es war ja ein Wochenende.

Wir waren schon einen Tag vorher im Haus Martinus in Bereitschaft. Als die Geflüchteten dann kamen, war es noch dunkel. Ich glaube, das war irgendwann zwischen fünf und sechs Uhr morgens. Da sind die Busse angekommen.

Eigentlich war das Haus Martinus für so eine Aktion gar nicht vorgesehen. Im August waren die letzten Bewohner aus dem Altenheim ausgezogen. Es stand leer. Erinnern Sie sich, wie lange Sie Zeit hatten, sich vorzubereiten?

Ein paar Tage vorher hat der Caritasverband zusammen mit der Feuerwehr und dem DRK die Aufnahme vorbereitet. Sie haben Betten und Schlafsäcke gebracht und die Zimmer eingerichtet. Mit den technischen Vorbereitungen hatte ich nichts zu tun. Wir waren nur für die Aufnahme zuständig.

Ihr Einsatz begann in dem Moment, als die Busse kamen.

Wir wussten aber gar nicht, wann sie kommen würden. Wir wussten auch nicht, wie viele Menschen und wie viele Busse es sein würden. Wir mussten einfach wach bleiben und warten. Manchmal sind wir auf die Straße gegangen, um nicht einzuschlafen. Das war eine Herausforderung für uns alle. Für die ganze Gesellschaft. Zum Glück haben so viel Ehrenamtliche geholfen.

Aber nicht in dieser Nacht?

Nein. Da waren nur die Hauptamtlichen im Einsatz.

Sie haben ganz selbstverständlich Überstunden gemacht, weil es anders nicht ging.

Das war so ein schwieriges Jahr in der ganzen Welt. Es waren so viele Menschen auf der Flucht, es gab so viel Gewalt. In Syrien war Bürgerkrieg, der IS hat die Länder erobert. Auch Teile des Irak. Ich habe diese Nacht als Herausforderung empfunden. Aber ich bin gerne zu meiner Arbeit gegangen. Und ich freue mich, dass so viele Menschen geholfen haben, dass die Geflüchteten einen Ort finden konnten, wo sie in Frieden leben können.

War diese Nacht für sie dann auch eine Chance, ganz konkret etwas tun zu können?

Natürlich. Es war eine Ehre für mich, dass wir helfen konnten. Das war nicht nur unsere Aufgabe im Job, Ich habe das auch als moralische Verpflichtung empfunden.

Am 6. September 2015 begrüßten der damalige Regierungspräsident Johannes Schmalzl und die Sozialbürgermeisterin Isabel Fezer die Geflüchteten. Foto: Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Es kamen in dieser Nacht drei Busse mit 126 Menschen. Was ist geschehen, als die Bustüren aufgingen?

Sie kamen ja direkt zu uns. Wir mussten die Erstaufnahme machen. Wir haben aufgeschrieben, wie sie heißen, ob sie allein oder als Familie gekommen sind. Wir haben geschaut, wer behindert oder besonders schutzbedürftig ist. Wir haben die Leute beruhigt, ihnen erklärt, dass sie am Ziel angekommen sind. Dass sie in Sicherheit sind. Ich konnte mich gut in sie hineinversetzen. Ich bin mit meinen Eltern aus dem Iran während des Irak-Iran-Kriegs geflüchtet – per Schiff und mit mit dem Bus. Diese Geschichte hatte ich im Kopf. Ich habe erlebt, wie Menschen uns geholfen haben. Wir hatten keine Kleidung und haben in einer Kleiderkammer wieder Kleidung bekommen. Diese Erfahrung hat mich geprägt.

Haben die Menschen von ihrer Flucht erzählt?

Ich erinnere mich, dass ich mit ein paar Menschen aus Afghanistan gesprochen habe. Ich spreche Farsi. Ich habe ihnen gesagt, dass sie keine Angst haben müssen. Dass Stuttgart eine große Stadt ist. Dass aber alles noch ein bisschen Zeit braucht. Da waren hauptsächlich syrische, irakische und afghanische Flüchtlinge. Da waren auch Kinder dabei. Ich habe mich, nachdem ich die Fernsehbilder von den Menschen in Österreich gesehen habe, gefreut, dass die Kinder in Europa oder in Deutschland eine gute Zukunft vor sich haben.

Wann war der Einsatz für Sie zu Ende?

Ich glaube ich habe bis Sonntagnachmittag gearbeitet. Aber ich habe das gerne gemacht, so wie ich gerne zur Arbeit gehe, weil es einen Sinn hat. Das habe ich bei den jesidischen Frauen immer so empfunden. Wenn ich einzelne von ihnen wiedersehe und sie jetzt einen Führerschein haben, dann freue ich mich darüber.

Zur Person

Arbeit
Arasch Hafezi ist im Iran geboren. Er hat Sozialwissenschaften studiert. Er arbeitet seit 2014 der Flüchtlingshilfe des Caritasverbandes Stuttgart. Aktuell betreut er geflüchtete Menschen im Projekt OMID – Frühe Hilfen für traumatisierte geflüchtete Menschen. Zudem engagiert er sich im Arbeitskreis Asyl in Stuttgart

Auszeichung
Hafezi wurde 2022 für sein großes soziales Engagement mit dem Bundesverdienstorden ausgezeichnet.