Mehr als zehn Millionen Menschen leben in Bangkok – dazu kommen noch jährlich 32,4 Millionen Tourist*innen, womit die thailändische Metropole derzeit die meistbesuchte Stadt der Welt ist. Der starke Zustrom von Reisenden aus aller Welt ist der wahrscheinlich wichtigste wirtschaftliche Faktor des Landes. Wechselt man aber von der Makro- auf die Mikroebene, vom großen Ganzen aufs Individuum, entsteht ein anderes Bild: Zwar zieht es noch immer zahlreiche Menschen aus den ärmeren ländlichen Regionen in die Hauptstadt, weil es dort überhaupt Verdienstchancen gibt – doch der Kapitalismus meint es selten gut mit denen, die im unteren Segment der Dienstleistungsbranche arbeiten.

Das erfahren auch Jen (Jutamat Lamoon) und Wason (Wason Dokkathum), die tragischen Protagonist*innen aus „Funeral Casino Blues“, die sich zum Teil mit mehreren Jobs über Wasser halten – und doch kaum das Nötigste dafür erwarten können. Er steht unter anderem in einer Bar hinterm Tresen, wird aber immer noch von den Handlangern eines Kredithais belagert, bei dem er hohe Schulden hat. Sie muss nicht nur sich, sondern auch ihre auf dem Land zurückgebliebene Familie versorgen. Dafür verkauft sie ihre Zeit und ihren Körper an wohlhabende Männer aus dem Ausland.

Jen (Jutamat Lamoon) weiß immer genau, wie viele Patronen sich noch im Lauf des Revolvers befinden.

ONE TWO Films / Komplizen Film

Jen (Jutamat Lamoon) weiß immer genau, wie viele Patronen sich noch im Lauf des Revolvers befinden.

Als sich Jen und Wason erstmals begegnen und sie ihm eine Packung Streichhölzer reicht, friert für einen kurzen Moment die Zeit ein – eine beiläufige Berührung, nach der nichts mehr so sein wird wie es vorher war. Ihre Annäherung vollzieht sich im Anschluss beinahe wortlos, auf eine zärtliche Art und Weise selbstverständlich. Beide sind plötzlich einfach im Leben des anderen präsent, wobei der in Berlin lebende Regisseur Roderick Warich die genaue Natur ihrer Beziehung lange im Ungefähren lässt. Sind sie jetzt ein Paar? Oder ist Wason, der bald zu einer Art Beschützer für Jen wird und sie sogar zu den Treffen mit ihren Kunden fährt, einseitig in sie verliebt? Zum einen hat dieses Aufeinandertreffen inmitten der von „Funeral Casino Blues“ skizzierten, durch und durch prekären Realität etwas Utopisches, schon deshalb, weil es sich jeder Handelslogik zu entziehen scheint.

Zum anderen kann echte Intimität in einer von ökonomischen Zwängen bestimmten und auf Ungleichheit basierenden Welt gar nicht erst entstehen. Jen und Wason teilen sich nur selten einen Frame, und wenn doch, werden sie innerhalb des Bildes voneinander getrennt, etwa durch die Streben eines Fensters, die Wason einmal regelrecht zerteilen. In Momente der Unbeschwertheit wiederum schleichen sich schnell Störgeräusche ein, meistens in Form des digitalen Plätscherns der Handy-Benachrichtungstöne, wenn Jen von einem ihrer Freier kontaktiert wird. Bald erhaschen wir einen ersten Blick auf den Revolver in Wasons Hosenbund – und wenige Szenen später zählt Jen, wie viele Kugeln sich in der Trommel befinden: Sechs Stück sind es. „Das heißt, ich kann sechs Leute umlegen“, schlussfolgert sie. Spätestens hier wird klar, dass wir uns nicht zuletzt auch in einem Genrefilm befinden – und dass die Eskalation nur eine Frage der Zeit ist…

Ein Geisterfilm in Neonfarben

Roderick Warich, der nach seinem Regiedebüt „2557“ bereits zum zweiten Mal in Thailand gedreht hat und als Drehbuchautor an Filmen wie „The Trouble With Being Born“ und „Die Theorie von Allem“ beteiligt war, legt durchaus gewaltige Ambitionen an den Tag. So unerbittlich seine Bestandsaufnahme sozialer Disparitäten ist, so cinephil und artifiziell ist sein ästhetischer Zugriff auf die südostasiatische Megacity – in den zahlreichen Aufnahmen von außen nach innen spiegelt sich auch die Außenperspektive des Regisseurs, der sichtlich fasziniert, aber nie exotisierend auf den neonfarbenen Schmelztiegel schaut.

Funeral Casino Blues“ ist dabei ein Nachtfilm durch und durch, nach dessen 152 Minuten man sich Bangkok gar nicht mehr bei Tage vorstellen kann – ein umherdriftendes Moodboard der Stadt, getragen von wabernd-sphärischen Ambient-Teppichen und einem zuweilen an Hongkong-Film-Soundtracks erinnernden, sanft ins Melodramatische gleitenden Klavier-Score. Man denkt an so unterschiedliche Filme wie „Millennium Mambo“, „Fallen Angels“, „Personal Shopper“, „Leben nach dem Tod in Bangkok“. Und natürlich mitunter auch an Apichatpong Weerasethakul, den großen thailändischen Geisterfilmer, dessen Filme allerdings nicht in urbanen Ballungszentrenten, sondern eher auf dem Land oder an den Stadträndern angesiedelt sind.

Selbst wenn Jen und Wason (Wason Dokkathum) doch einmal gemeinsam in einem Frame zu sehen sind, scheinen sie doch immer durch irgendetwas voneinander getrennt zu sein…

ONE TWO Films / Komplizen Film

Selbst wenn Jen und Wason (Wason Dokkathum) doch einmal gemeinsam in einem Frame zu sehen sind, scheinen sie doch immer durch irgendetwas voneinander getrennt zu sein…

Anders als bei Weerasethakuls Goldene-Palme-Gewinner „Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben“ ist das Gespenstische hier aber kein Resultat von Mystik oder Spiritualität, und es führt auch nicht in einen Zustand der Transzendenz. Die Geister von „Funeral Casino Blues“ sind eine Ausgeburt der Wirklichkeit, in der der Film angesiedelt ist: Sie erscheinen zuerst als anonyme Messenger-Nachrichten, dann auf Überwachungskamerabildern, die jeden Menschen zur entstimmlichten, sich ruckartig durch den Raum teleportierenden Geisterpräsenz vereinheitlichen.

Auch die Kunden von Jen erscheinen als bedrohliche Entitäten, denen der Film aus guten Gründen kein Gesicht gibt: Wir sehen sie nur von hinten oder im Halbdunkel. Am Ende wird „Funeral Casino Blues“ (der so stimmungsvolle wie rätselhaft anmutende Titel bezieht sich übrigens auf ein Beerdigungsritual in den ländlichen Regionen des Isaan) dann konsequenterweise wirklich zum Geisterfilm, nachdem er im Verlauf seiner drei Kapitel eine Atmosphäre des konstanten Ausgeliefertseins aufgebaut hat. Ständig könnte etwas oder jemand in der Dunkelheit lauern. Ein gewalttätiger Freier, ein Schuldeneintreiber, eine Spukgestalt – irgendwann macht das keinen Unterschied mehr.

Fazit: „Funeral Casino Blues“ übersetzt die sozialen Verwerfungen in der thailändischen Metropole Bangkok in einen atmosphärisch driftenden Nacht- und Geisterfilm, der im Verlauf seiner drei Kapitel zunehmend ins Unheimliche gleitet.

Wir haben „Funeral Casino Blues“ beim Filmfest Venedig gesehen, wo er im Wettbewerb der Reihe Orizzonti seine Weltpremiere gefeiert hat.