Es gibt Tage, die nichts verheißen, die nur aus zäher Zeit bestehen. Und es gibt gute Tage, wenn zum Beispiel das Fernsehen am Sonntag einen Heimatfilm mit Rudolf Prack zeigt. Oder wenn Frau Bauer zum Putzen kommt. Heute ist so ein Tag. Renate Burkl stemmt sich hoch, vom Liegen ins Sitzen. Die geschwollenen Füße steckt sie in große Filzpantoffeln. Den Bauch, der schwer auf den Schenkeln liegt, verstaut sie unter einer Tagesdecke. Hier, auf der Mitte ihres Bettes, zwischen Schrankwand, Fernseher und Fenster, spielt sich seit dem Tod ihres Mannes ihr Leben ab. Mal im Sitzen, mal im Liegen. Seit zwölf Jahren.
Um sieben Uhr morgens hilft eine Pflegerin ihr in die Bluse, Größe 60, Versandware aus den USA. Sie war schon immer „eine starke Frau“, wie sie sagt. Das sei familiär bedingt. Auch ihr Mann war ein Kräftiger. Karl war die Liebe ihres Lebens, die einzige. Sie begegnete ihr spät. Beide waren schon über 50, als sie sich bei der Arbeit kennenlernten. Sie füllte beim Spar in Stuttgart-Vogelsang die Regale auf, er holte die leeren Kartonagen ab. Sie heirateten und unternahmen Reisen in die Vereinigten Staaten, wo niemand ihre großen Körper beachtete. Es war die schönste Zeit ihres Lebens.
Abschied vom Ehemann – und dem Rest der Welt
Sie dauerte nur wenige Jahre. Karl litt an Zucker, er musste beide Beine abnehmen lassen, wurde bettlägerig. Für ihn ging Renate Burkl jeden Tag vor die Tür, zum Sanitätshaus, zur Apotheke, zum Einkauf, selbst als ihr das Rheuma in die Knochen kroch. Schon damals verlegte sie ihre Schlafstätte ins Wohnzimmer, stellte die Betten Eck an Eck und harrte mit ihm aus, tagelang, jahrelang.
In der Nacht auf den 4. April 1996 erlitt Karl einen Schlaganfall. Die Ärzte erschienen eineinhalb Stunden nach ihrem Notruf. Als Renate Burkl von ihrem Mann Abschied nehmen musste, verabschiedete sie sich auch vom Rest der Welt. Nach seiner Beerdigung stieg sie das letzte Mal die Treppenstufen in ihre Wohnung in Stuttgart-Degerloch hinauf. Unten am Eingang, neben dem Klingelknopf und über dem Briefkastenschlitz, steht immer noch sein Name.
Alltag auf zwei Quadratmetern
Von den 50 Quadratmetern beansprucht Renate Burkl an gewöhnlichen Tagen zwei bis drei. Auf dem Rolltisch an ihrem Bett liegen alle Utensilien für den Tag: die Fernbedienung, das Telefon, ein Glas mit Schmerztabletten, eine Flasche Wasser, die Lupe, der Kugelschreiber, das Rätselheft. „Am liebsten löse ich Zahlenrätsel und Kreuzgitter“, sagt sie. Mit den Sudoku-Rätseln weiß sie nichts anzufangen. Kreuzworträtsel strengen sie an, seit sie zum Lesen die Lupe nehmen muss. Mit den ausgefüllten Heftchen könnte man ein kleines Bücherregal füllen. In dieser Parallelwelt aus Zahlen und Buchstaben durchlebt Renate Burkl Höhen und Tiefen, feiert Erfolge und steckt Niederlagen ein.
Bis um Punkt 10.30 Uhr die Haustür aufgeht. „Frau Burkl, das Mittagessen!“, ruft der Mitarbeiter vom mobilen Menüdienst, der wie alle Besucher von Renate Burkl einen Hausschlüssel von ihrer Wohnung besitzt. Er legt einen in Plastikfolie eingeschweißten Styroporteller von der Firma Apetito auf ihren Tisch: „Feine Bratwurst mit Salzkartoffeln und Spinat.“ Eine halbe Stunde lang lässt Renate Burkl die Vorfreude auf sich wirken. Dann reißt sie die Folie auf, spannt ein Handtuch zwischen Kinn und Teller und isst. „Spinat mag ich gar nicht“, sagt sie und lässt nichts übrig.
Das Essen wird ihr zum Verhängnis
Das Essen ist ihr zum Verhängnis geworden. Sie liebt alles Deftige – Maultaschen, Würste, Braten. Ein Genuss, den sie mit ihrem Mann geteilt hat, und der einzige, der ihr geblieben ist. Sie will darauf nicht verzichten, pocht auf das Menschenrecht, zu essen, was einem schmeckt. Irgendwann haben die Ärzte es aufgegeben, ihr zu leichterer Kost zu raten. Irgendwann war sie so schwer, dass sie sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Seit vier Jahren steht der Rollator unbewegt im ehemaligen Schlafzimmer, inmitten von Taschen, Tüten und Koffern voll von Erinnerungen – Kassetten, Postkarten, Stickereien, Kleidern, die nicht mehr passen.
Kaum verändert hat sich das Panorama, das Renate Burkl von ihrem Bett aus überblicken kann. Im Vogelkäfig zu ihrer Linken saß zuerst Biggi, dann kam Susi, später Hansi und seit vier Jahren der zweite Hansi. Daneben steht der Fernseher, der sie mit Heimatfilmen und Kochsendungen unterhält. Es folgt die braune Schrankwand mit den Urlaubssouvenirs, auf die sich über die Jahre eine Schicht Staub gelegt hat. Und schließlich die Wand zu ihrer Rechten mit vielen Uhren, die die Stille beleben. Blickt sie aus dem Fenster, sieht sie ein Mehrfamilienhaus und einen prächtigen Baum. Er zeigt ihr die Jahreszeit an.
„Barack Obama“ noch nie gehört
Den Namen Barack Obama hat sie noch nie gehört. Sie weiß auch nicht, wer zurzeit der deutsche Bundeskanzler ist. Dass mal zwei Flugzeuge großen Schaden in New York angerichtet haben, hat sie mitgekriegt, wahrscheinlich von der Nachbarin. Die Euroeinführung hat sie wiederum versäumt, was sie wurmt: „Ich habe noch so viele Pfennige.“
Dass sie seit der Beerdigung von Karl nur in ihrem Bett lebt, stimmt nicht ganz. Zweimal hat sie die Wohnung verlassen, allerdings unfreiwillig. Acht Sanitäter mussten sie auf einer Trage die Treppe hinunterschleppen. Beim ersten Auszug hatte sie eine Entzündung am Unterleib, beim zweiten einen Tumor an der Brust. Von der Außenwelt bekam sie nicht viel zu sehen: den Rettungswagen von innen, Krankenhausflure, Krankenhauszimmer mit alten, schweigsamen Menschen.
Nach dem Mittagessen kommt oft jemand vom Pflegedienst und wäscht sie dort, wo sie nicht mehr hinkommt. Auch die Hausärztin schaut manchmal vorbei. Einen Zahnarzt hat Renate Burkl dagegen schon lange nicht mehr gesehen. „Die oberen Zähne sind mir ausgefallen. Aber mir reichen die unteren“, sagt sie.
Heute kommt die Putzfrau, Frau Bauer. Renate Burkl mag sie gern. Sie sei immer freundlich und bringe ihr oft eine TV-Zeitschrift oder ein Rätselheft mit. Heute hat es Frau Bauer eilig. Sie saugt schnell um die Pantoffeln herum und ist im Nu wieder verschwunden. Nun beginnt der einsame Teil des Tages. Es ist erst früher Nachmittag.
Angehörige hat sie schon: eine Schwägerin in den USA, die ihr zu Weihnachten Vorhangkordeln mit Bommeln und Plastikblumenkränze schickt. Dann noch eine Schwester in Günzburg, die es in den Knien hat, und die 95-jährige Schwiegermutter, die sich nicht mehr meldet, seit sie in einem Altenheim lebt.
Prozellanpuppen und Stofftiere als Gesprächspartner
Renate Burkl kümmert sich selbst um Gesellschaft. Hinter dem Bettrand sitzen ihre Gesprächspartner: Porzellanpuppen, Stoffpuppen, Stofftiere. Sie stellt sie vor: „Die hübsche Blonde da heißt Petra. Der Kerl mit den roten Bäckchen ist Denny, seine Freundin heißt Hedi. Und da oben auf der Schaukel sitzt Charly, der Clown.“ Manche Puppen singen auf Knopfdruck, zum Beispiel Pizzabäcker Jo. „That’s Amore“, schmettert er, wenn seine Batterien geladen sind.
Besonders gern tauscht sich Renate Burkl mit Herrn Wanner aus, dem dicken Koch aus Keramik, der ganz oben auf dem Schrank steht. Sie sprechen über alte Zeiten. Jahrelang hat sie für Herrn Wanner in der Gastronomie der Filderhalle Kochtöpfe ausgeputzt.
Geht ihr der Gesprächsstoff aus, zieht sie die Puppen um. Die Nachbarin brachte ihr kürzlich eine Tasche mit Puppenkleidern, die sie unter ihrem Bett aufbewahrt. „Bei der Kälte da draußen sollen es alle warm haben“, sagt die fürsorgliche Puppenmutter.
Rauchfleisch und Stollen im Bett
Zum geselligem Beisammensein gehört auch stets etwas zu essen. Aus der Tiefe ihres Bettzeugs fischt Renate Burkl eine Tüte mit den Resten eines Diätstollens aus Nürnberg – ihr kleines süßes Geheimnis, das die langen Nachmittage in zwei Hälften teilt. „Davon nasche ich, wenn Kaffeezeit ist“, sagt sie. In einer anderen Ecke ihres Bettes hat sie Rauchfleisch und einige Landjäger deponiert. Damit wertet sie ihr Abendessen auf. In der Post findet sie immer häufiger diese verführerischen Werbeprospekte inklusive Bestelllisten. Die Nachbarin hilft ihr, sie auszufüllen, und nimmt die Überweisungsträger mit zur Bank.
Die kleinen Sünden kann sie sich eigentlich auch finanziell nicht leisten. Sie stottert Schulden ab. Die orthopädischen Schuhe und Prothesen von Karl waren kostspielig. Größere Anschaffungen muss sie in Raten abbezahlen. Den Trockner beispielsweise, der seit vier Jahren die magere Rente auffrisst. Ihre größte Angst: „Dass irgendwann der Fernseher kaputt geht.“ Das alte Gerät von Philips hat seinerzeit noch ihr Karl angeschafft.
Größte Angst? „Dass irgendwann der Fernseher kaputt geht“
Es beginnt zu dämmert, und Vogel Hansi, der Zweite, hat aufgehört zu zwitschern. In der Wohnung über ihr schreien sich die Nachbarn an. Renate Burkl ist mit ihrem Dasein im Reinen. Vor ihr liegen einige aufregende Ereignisse. Ihr Teppich muss dringend mal gereinigt werden. In dieser Zeit soll sie im Nebenzimmer Platz nehmen. Und nächstes Jahr steht ihr 70. Geburtstag an. Sie will ein paar Brote schmieren und eine Nachbarin einladen.
Was ist seither geschehen?
Renate Burkl ist nicht mehr am Leben, auch wenn das Online-Telefonverzeichnis etwas anderes suggeriert. Dort steht sie mit ihrer Degerlocher Anschrift und einer Telefonnummer, die ins Leere führt. Offenbar hat niemand daran gedacht, Renate Burkl abzumelden, als sie im November 2012 mit 74 Jahren in ein Pflegeheim umzog. Das berichten Frau Hübner, die Nachbarin, die direkt gegenüber wohnt, und Frau Babic, Renate Burkls Nachmieterin. „Als sie noch nebenan wohnte, besuchte ich sie ab und zu“, erzählt Ruth Hübner. Sie sei immer erstaunt gewesen, wie gut gestimmt Renate Burkl gewesen sei, trotz ihrer Beeinträchtigungen. „Sie war eine Frohnatur.“
Ruth Hübner ist selbst schon etwas älter. „Ich weiß nicht mehr genau, woher ich das weiß“, sagt sie, „aber ich weiß sicher, dass sie bald nach ihrem Umzug ins Pflegeheim gestorben ist.“ Renate Burkl erwähnte zu Lebzeiten eine Schwester in Günzburg. Ob sie noch lebt, ist unbekannt.