Von André Wesche

Heidelberg/Mannheim. Mit ihrem populärwissenschaftlichen Sachbuch „Darm mit Charme“ brach die Ärztin Giulia Enders 2014 eine Lanze für ein oft unterschätztes Organ und traf damit den Nerv einer riesigen Leserschaft. Acht Millionen Exemplare gingen weltweit über die Ladentische.

Nun legt die gebürtige Mannheimerin nach. Mit „Organisch“ (Ullstein Verlag, 24,99 Euro) richtet die 35-Jährige den Fokus auf Lunge, Gehirn, Haut und Muskeln – und liefert dabei verblüffende Einblicke in die Wirkungsweise des Immunsystems. Ein Gespräch.

Frau Enders, hat Sie der Erfolg Ihres Erstlings „Darm mit Charme“ einigermaßen geplättet?

Ja, ich war auf jeden Fall überrascht. Beim Schreiben habe ich nicht darüber nachgedacht, ob das ein erfolgreiches Buch wird oder nicht. Und meine Schwester, die das Buch illustriert hat, auch nicht. Es ging uns eher darum, ob wir gut finden, was wir da machen. Dass es dann so einen Anklang fand, war super schön. Aus Witz habe ich damals bei der Vorschau großspurig gesagt: Das Buch ist eigentlich nur für die Leute gedacht, die einen Darm haben. (lacht) Insofern hat es vielleicht so halb gepasst.

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Warum ist jetzt die richtige Zeit zum Nachlegen?

Bestimmte Dinge sollten einfach mehr Leute wissen, als es jetzt der Fall ist. Bei „Organisch“ hat sich das ganz still angesammelt. Ich saß oft im Krankenhaus in der Sprechstunde, habe den Leuten zugehört, wie es ihnen geht, wo der Schuh drückt und was für sie schwierig ist. Erst mal konnte ich gar nicht benennen, was mir in diesen Gesprächen gefehlt hat. Es war eine Unzufriedenheit. Als Ärztin kann Sachen lindern oder dafür sorgen, dass die Verdauung flotter läuft. Aber dann ist da die Situation drumherum, wo jemand von einer 60-Stunden-Woche gestresst oder einfach einsam ist und sich dann auch noch dafür schämt. Oder sich geniert, mir irgendwas zu zeigen, was beim aber einfach dazu gehört und ich mir auch gerne anschaue. Diese vielen kleinen Momente, die sich zusammenverdichten, haben zu vielen Fragen geführt.

Zum Beispiel?

Was für eine Beziehung haben wir eigentlich mit diesem Körper? Und was hat die Außenwelt mit ihrer ganzen Digitalisierung und diesem Wirtschaftssprech, wer was wert ist und wer nicht, für einen Einfluss darauf? Ich konnte zum Beispiel nicht so viel mit der Body-Positivity-Bewegung anfangen: „Du bist schön, so wie du bist!“ Hm, okay. Aber ich habe gemerkt, dass es bei mir etwas auslöst, wenn ich Sachen über den Körper lese oder kleine Videos anschaue, wo man eine Immunzelle sieht, die alle Zellen abtastet. Da kommt in mir eine Dankbarkeit und Liebe auf. In all diesen Momenten habe ich gemerkt, dass man über Wissen vielleicht ein anderes Gefühl zu seinem Körper aufbauen kann.

Der Titel „Organisch“ ist vergleichsweise schlicht. Gab es Stimmen, die sich wieder einen schmissigen Reim gewünscht hätten?

Ich muss sagen, dass der Verlag superfair war. Wenn ich mehr Zeit gebraucht habe, haben sie mir keinen Druck gemacht und auch nicht vorgeschrieben, wie das zu klingen hat. Ich habe eher von innen gemerkt, dass es nicht zu der Idee passt, wenn ich andauernd Witze reiße. Bei „Darm mit Charme“ wollte ich das Thema auflockern. Hier geht es mir eher um ein Ruhigwerden und Zu-sich-Kommen. Ich kam gerade aus der Covid-Zeit und einer der wichtigsten Menschen für mich war gestorben. Da fühlte ich mich selbst etwas schwer und musste mich erstmal freischreiben. Spätestens in dem Kapitel mit den Muskeln, die ich gegeneinander antreten lasse, war ich wieder gelöster und konnte witziger sein, weil es da für mich gepasst hat.

Sie beginnen jeden Abschnitt Ihres Buches mit einer Episode aus Ihrem echten Leben. Wie kam es dazu?

Ich hatte am Anfang Schwierigkeiten, ins Schreiben reinzukommen. Dann bin ich zu einer befreundeten Paartherapeutin gefahren und habe gefragt: Wie baue ich eine Verbindung zu einem mir total fremden Organ auf? Sie meinte: Erinnern die dich an Personen, mit denen du dich bereits verbunden fühlst?

Das war eine supergute Frage. Es hat keine fünf Sekunden gedauert, da wusste ich, dass die Lunge meine Uroma ist. Dieses Weiche, was ich bei der Lunge ein bisschen passiv fand oder dieses Sich-an-alle-drumherum-Anpassen. Meine Uroma war neugierig, sie wollte viele verschiedene Dinge erleben.

Aber nicht auf die harte Business-Weise, sondern auf ihre weiche Weise. Das fand ich total logisch. Beim Immunsystem war es dann ein Ort, an dem ich mich in meiner Kindheit absolut si-cher gefühlt habe: Das war das Haus des besten Freundes meiner Oma. Ich habe überlegt: Warum haben wir uns da eigentlich alle so sicher gefühlt? Das war eine ganz andere Form von Sicherheit als zum Beispiel ein hoher Zaun. Und das ist das Spannende am Immunsystem: Es hat auch eine ganz andere Art, Sicherheit herzustellen, als nur dieses Abwehren von Keimen.

Auch Ihre Mutter spielt eine Rolle.

Bei den Muskeln, ganz klar! Sie war eine alleinerziehende Mutter. Ihr machten Dinge Freude, wenn sie Sinn ergeben. Sie hat angepackt und ist abends müde auf dem Sofa eingeschlafen. Die Marathonläuferin des Mutterseins! (lacht)

Um Zusammenhänge zu erklären, vermenschlichen Sie Zellen und Organe. Können Sie sich vorstellen, dafür von Kollegen kritisiert zu werden?

Ja, kann ich. (lacht) Ich habe aber immer die Hoffnung, dass das Bild, das ich zeichne, wissenschaftlich akkurat ist. Wenn ich zum Beispiel sage, dass die Belohnungszellen abstumpfen, wenn man zehnmal hintereinander sein Lieblingslied hört, klingt das zwar vermenschlicht.

Aber auf physiologischer Ebene ist es exakt, was passiert: Die stumpfen ab, werden weniger erregbar, um sich vor einer Übererregung zu schützen. Da habe ich das Gefühl, dass die Vermenschlichung okay ist, weil das menschliche Verb perfekt zur physiologischen Realität passt.

Sie vertrauen also darauf, dass die menschliche Vorstellung akkurat ist?

Genau. Für mich ist es ein wichtiger Schritt, Wissenschaftlich-Abstraktes auch fühlbar zu machen. Wir bekommen so viele Infos und Wissen. Theoretisch kann jeder alles im Internet nachlesen. Bei Büchern geht es darum, eine coole neue Perspektive auf eine Sache zu entdecken, die man so noch nicht kannte.

Der Epilog Ihres Buches ist eine Ode an das Gehirn und das Leben. Aber auch eine kritische Betrachtung unserer Gesellschaft – ein Organismus, der im Moment leider zu kränkeln scheint …

Dem geht es hier und da nicht so gut, das stimmt. Das macht vielen Leuten im Moment Angst. Und dadurch gibt es so viele Rückwärtstrends – man will sich zumindest ein bisschen an Sicherheit klammern. Früher gab es die Firma mit den fünf Abteilungen. Da musste man immer einen von oben fragen und der hat gesagt, wie es gemacht wird. Heute sind wir globale Akteure, vernetzt über die ganze Welt.

Und wenn jemand in seiner Freizeit aufs Coldplay-Konzert geht, ist morgen die Hölle los, weil er dabei gefilmt wurde, wie er irgendwas angestellt hat. Dadurch verändert sich die ganze Unternehmensstruktur: Nichts da mit fünf Ebenen! Alles ist vernetzt und kann sich in Sekunden verändern. Das ist eine sehr unkontrollierbare und dadurch beängstigende Verformung des Miteinanders. Deshalb finde ich es sehr erholsam zu sagen, dass der Körper auch ein komplexes System ist – und er funktioniert.

Aber dazu braucht es ein paar grundlegende Prinzipien, oder?

Absolut. Wir können mal schauen, was diese Prinzipien beim Körper sind und dann überlegen, wo sie in dieser großen Weltgemeinschaft, in diesem großen Organismus fehlen, zu dem wir als Menschheit langsam werden. Denn alles, was wir machen, beeinflusst alle anderen. Wenn ich in die Richtung Klima denke, habe ich das Gefühl, dass wir ziemlich konkret werden könnten.

Man stelle sich vor, wir leben in einem Dorf und jemand kackt in den Fluss. Dann sind alle wütend und sagen: „Hör mal, du kannst doch nicht da oben in den Fluss kacken. Wir trinken davon!“ Das wäre ein ziemlich schnell gelöstes Problem. Aber weil alles so abstrakt und entkoppelt ist, wird plötzlich darüber diskutiert, wer noch mit dem Auto fahren darf. Dabei geht es gar nicht darum.

Die größten Verschmutzer sind 100 Unternehmen, die 70 Prozent des CO2 emittieren. Also vielleicht schauen wir einfach mal, wer den Riesenhaufen in den Fluss kackt? Wir brauchen eine Verhältnismäßigkeit, ein sinnvolles Gespür für die Sache. Wir können uns nicht über lauter Kleinzeug die Köpfe abreißen.

Abschließend: Die schönen Illustrationen im Buch stammen einmal mehr von Ihrer Schwester Jill. Ist sie eigentlich auch beim Text Ihre Beraterin?

Da gibt es immer zwei Momente. Wenn ich die verschiedensten wissenschaftlichen Artikel gelesen habe, telefoniere ich gerne mit meiner Schwester und erzähle ihr etwas darüber. Wenn ich dabei merke, dass sie besonders gut zuhört und auch mal lachen muss, weiß ich, dass das gut ist und ich darüber schreiben kann. Und wenn ich dann geschrieben habe, ist sie immer die erste Person, die das liest. Weil sie Synästhesistin ist, kann sie mir sagen, ob der Text noch eine Form ergibt oder nicht. Wenn er keine Form ergibt, muss ich ihn nochmal schreiben. (lacht)

Info: Am Freitag, 7. November, tritt Giulia Enders um 20 Uhr im Rahmen von Geist Heidelberg auf. Tickets unter: www.geist-heidelberg.de