Wolfgang Kuhn kann sich noch gut an den Sommer im Jahr 1972 erinnern. An den Trubel in der Stadt, die Menschenmassen, die ausgelassene Stimmung. Vor allem aber daran, dass Bayerns Schülerinnen und Schüler damals in den Genuss verlängerter Sommerferien kamen. „Zwei Wochen mehr – wegen der Olympischen Sommerspiele“, sagt der Vorsitzende des Moosacher Bezirksausschusses von der SPD. Als 14-Jähriger sei er damals ständig unterwegs gewesen zu unterschiedlichsten Wettbewerben. „Kanu, Judo, alles Mögliche. Wir durften ja umsonst mit der S-Bahn fahren und zu den Wettbewerben“, erinnert sich Kuhn. Und nach jedem Ausflug zu einer der olympischen Sportstätten kam er wieder an seinem Heimatbahnhof an: dem S-Bahnhof Oberwiesenfeld, der von allen eigentlich nur Bahnhof Olympiastadion genannt wurde.

Züge halten am S-Bahnhof Olympiastadion direkt an der Landshuter Allee schon lange nicht mehr. Letztmals stiegen hier Fußballfans 1988 bei der Europameisterschaft ein und aus – bei der sich die Mannschaft der Niederlande im Münchner Olympiastadion im Finale mit 2:0 gegen die Sowjetunion den Titel sicherte. Schon Jahre zuvor war die Station aus dem Münchner S-Bahnnetz herausgenommen worden und wurde bis zur kompletten Stilllegung nur noch bei Großereignissen im Olympiastadion angefahren.

Bekanntermaßen will sich die Landeshauptstadt um das Mega-Event schlechthin bewerben: Am 26. Oktober stimmen die Münchnerinnen und Münchner darüber ab, ob sich die Stadt offiziell um die Ausrichtung olympischer und paralympischer Sommerspiele in den Jahren 2036 oder 2040 bewerben soll. In der Diskussion über Sommerspiele in der Stadt spielen Themen wie die Nutzung bestehender Sportstätten, die Schaffung von Wohnraum, Nachhaltigkeit und natürlich auch die Kosten eine zentrale Rolle. Aber auch bei den Themen verkehrliche Anbindung von Sportstätten und Infrastruktur werden plötzlich Fragen aufgeworfen, die noch vor geraumer Zeit als undenkbar galten. Wie die Reaktivierung des S-Bahnhofs Oberwiesenfeld.

Als die Vollversammlung des Münchner Stadtrats im Mai die Olympiabewerbung auf den Weg gebracht hat, ließ in der Stellungnahme des Mobilitätsreferats der Landeshauptstadt ein Satz aufhorchen: „Es stellt sich die Frage, ob ggf. die Möglichkeit besteht, den S-Bahnhof Olympiastadion zu reaktivieren“, heißt es in dem Papier. Rollen also bald wieder S-Bahnen vom Nordring aus Richtung Olympiapark?

Auf den Gleisen wuchern die Sträucher, auf den Bahnsteigen wachsen Bäume: Der Bahnhof am Olympiapark gilt als bekannter „Lost Place“.Auf den Gleisen wuchern die Sträucher, auf den Bahnsteigen wachsen Bäume: Der Bahnhof am Olympiapark gilt als bekannter „Lost Place“. (Foto: Catherina Hess)

Seit seiner Stilllegung im Jahr 1988 liegen der Bahnhof und die Gleisanlagen Richtung Norden bis zur Triebstraße brach. Sprayer haben in all den Jahren den Bahnhof, der unter Denkmalschutz steht, in ein sehr heterogen gestaltetes Freilicht-Kunstwerk verwandelt. Und die Natur hat sich das Areal zurückerobert, auf den beiden Bahnsteigen ragen mittlerweile hochgewachsene Bäume in den Himmel. Zwischenzeitlich hatten sich Skater auf dem Areal breit gemacht, mussten ihre in Eigeninitiative errichteten Anlagen aber wieder abbauen. Öffentlich zugänglich ist der Bahnhof Oberwiesenfeld eigentlich nicht, aber Zäune, die ihn umgeben, erfüllen mit all den Lücken darin ihren ursprünglichen Zweck schon lange nicht mehr.

Und eigentlich hätten diese auch schon Bauzäunen weichen sollen. Denn die Stadt hat ambitionierte Pläne für das Gelände. Bereits 2019 hat der Bauausschuss des Stadtrats mit dem Beschluss „Nord-Süd-Grünverbindung auf der ehemaligen S-Bahntrasse im 10. Stadtbezirk Moosach“ Vorplanungen für das Areal auf den Weg gebracht. Vorgesehen sind unter anderem eine durchgängige, funktionsfähige und barrierefreie Fuß- und Radwegeverbindung auf der alten Olympia-S-Bahntrasse vom Sapporobogen im Süden bis zur Brücke über die Triebstraße im Norden, teilt das Baureferat auf SZ-Nachfrage mit. Letztere soll saniert werden, um auch den Norden und die dahinter liegende Dreiseenplatte aus Lerchenauer, Feldmochinger und Fasaneriesee zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichen zu können. Zudem sollen auch Querungen in Ost-West-Richtung geschaffen werden.

Wolfgang Kuhn, der BA-Vorsitzende, spricht von „ambitionierten Plänen“ mit Kosten von bis zu 37 Millionen Euro, die dem Bezirksausschuss im Jahr 2022 vorgestellt worden sind. Passiert ist seitdem aber nichts. „Wir waren hier in Moosach schon in freudiger Erwartung“, sagt Kuhn, der von „zig Workshops“ mit Bürgerbeteiligung spricht, bei denen erörtert wurde, wie die Fläche künftig genutzt werden könnte. „Es gab auch früher schon viele Ideen von Künstlerateliers über ausrangierte U-Bahnen bis zur Freizeitnutzung für Jugendliche. Das ist halt auch eine Brachfläche mit enormem Potenzial“, sagt der BA-Vorsitzende.

Der ehemalige Stadtplaner Frank Becker-Nickels fordert für das Areal einfache Lösungen, um es nutzbar zu machen.Der ehemalige Stadtplaner Frank Becker-Nickels fordert für das Areal einfache Lösungen, um es nutzbar zu machen. (Foto: Martin Mühlfenzl)

Das sieht auch Frank Becker-Nickels, 83, so. Der ehemalige Stadtplaner wohnt seit 1973 im Olympiadorf und hat sich immer wieder mit dem S-Bahnhof Oberwiesenfeld beschäftigt. Dass die Fläche seit 1988 gewissermaßen verrottet und der unter Denkmalschutz stehende Bahnhof immer weiter verfällt, kann er nicht nachvollziehen. „Es wäre so einfach, hier mit ganz simplen Lösungen etwas zu erreichen. Es müssen ja keine 30 oder mehr Millionen Euro sein“, sagt Becker-Nickels bei einem Spaziergang durch den Bahnhof.

Dass hier irgendwann – möglicherweise zu Olympischen Sommerspielen – wieder Züge halten, glaubt der ehemalige Stadtplaner aber nicht. „Der Bahnhof hatte seine Zeit, aber die ist vorbei“, sagt Becker-Nickels. „Aber mit diesem Grünzug könnte vor allem der Münchner Norden, der immer vernachlässigt wurde, deutlich aufgewertet werden.“

Warum aber hat die Stadt ihre Pläne bisher nicht umgesetzt? „Weil ihr das Geld ausgegangen ist“, sagt Kuhn lapidar. Das Baureferat formuliert es etwas sachlicher: Leider sei die Anmeldung in den letzten Haushaltsjahren sowie im Haushaltsplan 2026 nicht berücksichtigt worden, so eine Sprecherin. BA-Chef Kuhn vermutet zudem, dass seitens der Stadt der Bürgerentscheid über die Olympiabewerbung abgewartet werden soll. „Sollte die Bewerbung durchkommen, kann ich mir schon vorstellen, dass das hier wieder ein Bahnhof wird“, sagt er. „Und er könnte wahrscheinlich auch bei so einem Großereignis für Entlastung sorgen.“

Der Annahme widerspricht das Mobilitätsreferat der Stadt allerdings weitgehend. Bei Überlegungen hinsichtlich einer Reaktivierung des Bahnhofs, so eine Sprecherin, sei stets der verkehrliche Nutzen im Vergleich zum Aufwand zu bewerten – und abseits von Veranstaltungen im Olympiapark gebe es eben wenig Nutzungsmöglichkeiten des Bahnhofs. „Heute führt außerdem die U-Bahnlinie U 3 im Westen bis nach Moosach und auch die U-Bahnlinie 1 befindet sich in unmittelbarer Nähe zum Olympiapark. Die Anbindung des Areals ist damit wesentlich besser als früher“, so die Sprecherin des Mobilitätsreferats weiter.

Nur dürftig abgesperrt und überzogen mit Graffitis: der Eingangsbereich des ehemaligen S-Bahnhofs Oberwiesenfeld.Nur dürftig abgesperrt und überzogen mit Graffitis: der Eingangsbereich des ehemaligen S-Bahnhofs Oberwiesenfeld. (Foto: Catherina Hess)

Baulich aber wäre es durchaus machbar, den Bahnhof und die Gleisanlagen zu reaktivieren, heißt es aus dem Mobilitätsreferat. „Die ehemaligen Gleisflächen sind nicht überbaut, auf weiten Teilen der Strecke liegen noch Gleise“, teilt die Sprecherin mit – einzig auf Höhe des Olympia-Einkaufszentrums seien die Schienen gekappt, da dort die U3 gebaut wurde. Und die Eisenbahnbrücken über die Triebstraße an den Nordring seien seit den Neunzigerjahren ungenutzt, sodass diese wohl nicht mehr in der Lage wären, Züge zu tragen. Der bauliche und statische Aufwand für eine Sanierung oder etwaige Neubauten könne aber nicht „ad hoc“ eingeschätzt werde, heißt es aus dem Referat.

Und der Bahnhof selbst, der als sogenannter „Lost Place“ viele Münchnerinnen und Münchner, aber auch Touristen anzieht? Der Denkmalschutz würde einer Reaktivierung nicht entgegenstehen, so die Einschätzung des Mobilitätsreferats, denn letztlich würde dann ja wieder der Originalzustand hergestellt. Nostalgiker würde das sicher freuen. „1972 hat es auch funktioniert und die S-Bahn wurde gut angenommen“, sagt Wolfgang Kuhn. Und die allermeisten Sportstätten von damals sollen ja auch, so sieht es das Bewerbungskonzept vor, 2036 oder 2040 wieder genutzt werden – wenn München den Zuschlag für Olympische Sommerspiele erhält.