Der Fotograf Sven Marquardt, man kennt ihn auch von der harten Berghain-Tür, kommt zum Interview in die Redaktion in der Karl-Liebknecht-Straße. Zum Interview gehen wir auf die Dachterrasse. Es hat gerade geregnet, also wische ich erstmal die nassen Bierbänke ab. Bis Sven Marquardt mir den Lappen aus der Hand nimmt und mitwischt. Nach dem Interview macht er ein Video von der grandiosen Aussicht. Er postet es später bei Instagram.
Herr Marquardt, eine einzige Nacht lang wird während der Art Week eine Ausstellung von Ihnen im Haus der Visionäre zu sehen sein, „Disturbing Beauty“. Was verbirgt sich dahinter?
Das Projekt ist 2023 entstanden. Ich habe mich dafür mit zwei jungen Visual Artists zusammengetan, die aus meinen analog und bei Tageslicht fotografierten Bildern Visuals gemacht haben. Die Premiere war im Arts District Brooklyn in New York, wir waren zweimal in Kanada damit und letztes Jahr in Sofia. Ich hatte aber schon eine Weile das Gefühl, dass ich „Disturbing Beauty“ auch in Berlin zeigen möchte. In New York gab es ein DJ-Set, eine Art Clubnacht. Der Clubkontext begleitet mich schon fast mein ganzes Leben. Für mich ist das eigentlich die Fortsetzung der wilden Jahre in Ost-Berlin, die ja sehr klein, eingeengt und unfrei waren und trotzdem etwas ganz Eigenes hatten. Bis heute ist die Clubkultur meine Basis, meine Inspiration. Sie steht für ganz viel Freiheit.
Tim Sonntag für Berliner Zeitung am Wochenende
Sven Marquardt
Sven Marquardt wurde 1962 in Pankow geboren, mit 16 machte er eine Fotografenlehre, mit 20 ging er zum Fernsehen der DDR, er veröffentlichte Fotos in der Zeitschrift Magazin, später in der Sibylle. Gleichzeitig durfte er sich nicht zwischen Alexanderplatz und Friedrichstraße aufhalten. Der Kajalstift um die Augen, die Lederjacke, die Ohrringe, der Iro – das sollte kein Westdeutscher auf Ostbesuch sehen. Seit Mitte der Neunziger stand Sven Marquardt an der Tür des Ostgut und später auch beim weltberühmten Nachfolger-Club Berghain. Er ist die wohl berühmteste Berliner Nachtgestalt, auch weil er sich selbst zum Kunstwerk gemacht hat mit seinen Tätowierungen, Piercings, Totenkopfringen.
Die Ausstellung „Disturbing Beauty“ ist am 11. September von 20 Uhr bis zum Morgengrauen im Haus der Visionäre (Eichenstraße 4A ,12435 Berlin) zu sehen.
Anders als in New York wird es in Berlin Klaviermusik geben, oder?
Genau. Wir bauen einen großen, weißen Kubus in den Raum, dazu gibt es vier großformatige, auf PVC gedruckte Bilder. Das Ganze soll ein audiovisuelles Erlebnis sein. Es werden zwei Pianisten spielen. In meiner düsteren Ostjugend saß meine Mutter viel zu Hause und hat Klavierkonzerte gehört. Das war nach der Trennung von ihrem Mann, und das hat mich begleitet. Ich mag zum Beispiel Rachmaninow. Die Elf ist meine Lieblingszahl, warum weiß ich nicht, und wir öffnen die Ausstellung zu Sonnenuntergang am 11. September und schließen zu Sonnenaufgang. Es wird Tribünen geben, auf denen man sich mit einem Getränk niederlassen und die Bilder auf sich wirken lassen kann.
Was muss ein Mensch haben, dass Sie ihn fotografieren möchten?
Das ist ganz unterschiedlich. Manchmal überlegen wir im Team, wen wir gerne haben wollen. Oder jemand kennt irgendjemand. Dann habe ich Aufträge für Musikerportraits. Mit jemandem wie Marcel Dettmann arbeite ich zum Beispiel seit 20 Jahren zusammen. 2018 hatte ich eine Residency in Belgrad, die Betreiber haben das auf ihrer Webseite öffentlich gemacht und gefragt, wer sich fotografieren lassen möchte. 2022 war ich dann in New York, da haben wir sieben Wochen in Harlem gelebt, denn dort war es am preiswertesten. Wir waren im ganzen Block die einzigen weißen, komischen Typen.
Wie war das?
Wir kamen an mit der Taxe und acht Koffern. Es gab keinen Aufzug in dem Haus, und die Menschen saßen alle draußen, haben gegrillt und gequatscht. Es war heiß. Ich fühlte mich schon sehr fremd. Es gab dann viele tolle Begegnungen, aber es blieb trotzdem eine fremde Welt. Es war eine Challenge. Wie mache ich da eigentlich Fotos? Zweimal habe ich auch resigniert. Es gibt ja dieses amerikanische „ja, toll, nice, machen wir, ich bin jetzt aber in Eile“. Und dann hört man nie wieder was. Da musste man erstmal lernen, das nicht persönlich zu nehmen. Am Ende hatten wir 60 Leute fotografiert, das ist natürlich ein Klacks für eine Neun-Millionen-Stadt.
Porträts aus Sven Marquardts Serie „Disturbing Beauty“.Sven Marquardt
Sie haben mir vor vielen Jahren erzählt, dass Sie kurz vor dem Mauerfall zu dem Fotofestival in Arles fahren sollten und sich nicht getraut haben, diese Reise zu machen. Das hat sich verändert, oder?
Das war ein langer Prozess. Dreißig Jahre später bin ich dann tatsächlich in Arles angekommen … – Ich muss mir mal grade ein Hustenbonbon holen.
Sind das Emser-Pastillen?
Nein, Krügerol. Kennen Sie die? Sind Sie aus Ost-Berlin? Nein? Dann kennen Sie Krügerol nicht … Ich sollte 1988 nach Arles fahren, hatte noch schnell ein paar ausgereiste Ost-Berliner Freunde in Kreuzberg besucht und stand dann am Bahnhof Zoo. Diese plötzliche Freiheit war noch nicht in meinem Kopf, sie hat mich erschlagen. Ich bin dann zehn Tage in West-Berlin geblieben, so lange mein Taschengeld gereicht hat. 30 Jahre später habe ich die Reise nochmal neu gestartet, meine Bilder im Gepäck, und es war großartig. Ich war dann nicht nur so ein kleiner Ost-Berliner Piepel, der unsicher vor sich hin tappst. Aber das mit dem Reisen musste ich wirklich lernen. Die heutigen Biografien, wo Leute mal ein paar Jahre dahin gehen oder dorthin – das finde ich beeindruckend. Das hatte ich nicht so. Dafür hatte ich andere Sachen.
Was denn?
Naja. Dass ich erfahren habe, wie es sich anfühlt, nicht frei zu sein. Aber das waren auch nur vier oder fünf Jahre meines Lebens.
Wie ist das denn, wenn Sie durch Berlin laufen? Die halbe Stadt kennt Sie doch, oder?
Weil ich auch nicht so unauffällig aussehe? In Harlem kannte mich kein Mensch. Das war auch toll. Aber eigentlich bin ich mit allem, wie es ist, zufrieden. Auch wenn das total langweilig klingt, so ein Satz.
Sie haben oft gesagt, dass Sie Berlin brauchen, dass Sie sich als Künstler von dieser Stadt inspirieren lassen. Ist das immer noch so?
Das Reisen inspiriert mich schon auch. Aber jetzt dieses Haus der Visionäre. Das ist schon toll, dass es hier solche Locations gibt. Das gehört für mich auch zu Berlin. Aber dann sitzt man hier und der Fernsehturm wird zugebaut, wissen Sie.
(Von der Dachterrasse des Gebäudes in der Karl-Liebknecht-Straße, in dem die Redaktion der Berliner Zeitung untergebracht ist, hat man einen Blick auf die beiden Hochhäuser, die gerade auf dem Alexanderplatz gebaut werden.)
Eben. Viele Leute sind nicht mehr zufrieden mit Berlin. Geht es Ihnen auch so?
Es gibt immer diese Meckerköpfe. Ist es nicht normal, dass Städte durch Zyklen der Veränderung gehen? In New York geht man morgens über die Straße ins Gym, dann frühstücken, Saft, Tee, eine Omelette, und 100 Dollar sind weg. Ist natürlich megakrass. Ich versuche, mich vor dem Meckern über Berlin zu bewahren.
Sven Marquardt: „Nach New York kommt einem hier in Berlin alles sehr geschmeidig vor.“Tim Sonntag für Berliner Zeitung am Wochenende
Wie macht man das?
Durch neue Aufgaben. Natürlich frage ich mich, wie es sein wird, wenn die nicht mehr da sind. Oder keiner mehr danach fragt.
Was man dann macht? Das frage ich mich auch manchmal.
Naja, Sie haben Kinder. Aber wir machen hier auch gerade so eine Paartherapie.
Als Sie aus New York nach Berlin zurückgekommen sind, wie war das?
Das kommt einem dann hier alles sehr geschmeidig vor. Diese Härte von New York, dieser Sog – das hat schon was Faszinierendes. Aber man denkt auch, boah, Alter. Gemütlich ist es da wirklich nur, wenn man Millionär ist. Neulich bin ich an der East Side Gallery entlanggefahren. Da gegenüber, das sieht aus wie eine Vorstadt von Toronto. Total krass. Das ist kein Grund zum Meckern, aber ich erkenne das nicht. Da ist dieser lustige Mauerstreifen und gegenüber eine Kulisse, das ist so neu, so austauschbar. Erinnert mich an gentrifizierte Großstädte, in denen ich mal kurz war und geschaut habe.
Der Mensch, der für Sie Pressearbeit macht, schrieb mir, Sie möchten nicht Berghain-Türsteher in der Überschrift über diesem Interview lesen. Es gibt also diese zwei Identitäten des Sven Marquardt …
…. es ist eine Identität. Aber manchmal ist einfach nur von den Bildern des Berghain-Türstehers die Rede, wissen Sie. Das nervt. Die Clubkultur ist für mich seit so vielen Jahren die Basis für alles, was ich gemacht habe. Die Punk-Zeit in Ost-Berlin war aber gleichzeitig auch der Ausgangspunkt für mich als Fotograf. Ich hab mich doch nicht hochgearbeitet zum Fotografen. Ich war schon immer Fotograf und war schon immer in der Clubkultur.
Aus Sven Marquardts Serie „Disturbing Beauty“.Sven Marquardt
Ich würde Sie gern noch nach Ihrer Perspektive auf die Ost-West-Debatte fragen, die in den vergangenen Jahren aufgeflammt ist. Was denken Sie darüber?
Dieses Ost-West-Gedingse ist wirklich nochmal hochgekocht. Ich erlebe in der Wahrnehmung meiner Person in den westdeutschen Medien auch immer dieses: der ostdeutsche Fotograf. Ich denke dann immer, krass, das sind so die West-Bildungsbürgertum-Schreiberlinge. Damit geht es schon mal los. Mit dem Fall der Mauer hatten Millionen Ostdeutsche Migrationshintergrund im eigenen Land. Ich glaube, der Verlust der eigenen Identität hat bis heute Nachwirkungen. Nach dem Mauerfall habe ich ein paar Jahre lang nicht mehr fotografiert. Ich habe gefeiert und gejobbt, aber das andere war weg. Vielleicht hatte das mit diesem Verlust zu tun. Der Stolz darauf, wo man herkommt, wer man ist, der kam erst später wieder.
Und vorher war es einem peinlich?
Nee, aber man ist durch Kreuzberg und Schöneberg gerannt, hat in irgendwelchen Nachtbars abgehangen, im Kumpelnest oder so. Und man tat so, als wäre man da schon immer gewesen. Aber war man ja nicht. Toll, dass man das heute reflektieren kann. Und im Club-Kontext ist es völlig egal, wo man herkommt.
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