Bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig wird bei den Weltpremieren im Wettbewerb allabendlich mitgestoppt, wie lange die obligatorischen Standing Ovations dauern. Fünf, zehn oder gar 15 Minuten sind keine Seltenheit. In den Pressevorführungen am Morgen zeigt sich hingegen ein anderes Bild: Die ohnehin übermüdeten Journalist*innen klatschen wenn überhaupt kurz pflichtbewusst, machen sich dann aber auch direkt auf, um ihre Texte zu schreiben oder in der Kaffeeschlange nicht zu weit hinten zu landen. Nur bei „The Voice Of Hind Rajab“ war es diesmal ganz anders. Hier gab es selbst von der Presse minutenlange stehende Ovationen – und dazu vereinzelte, aber dafür äußerst nachdrückliche Buhrufe. Mit der rein filmischen Qualität hat das natürlich nur nachgeordnet zu tun.

Stattdessen lässt der Gazakrieg ohnehin kaum noch jemanden kalt – und ein so niederschmetterndes Zeugnis wie die insgesamt 70 Minuten umfassenden Notrufaufzeichnungen mit der sechsjährigen Hind Rajab, die am 29. Januar 2024 nach Beschuss durch die Israelische Armee allein mit sechs toten Familienmitgliedern in einem Auto eingeklemmt war, zieht einem endgültig den Boden unter den Füßen weg. Ob man es eher als humanistische Geste oder zynische Propaganda einordnet, dass die tunesische Regisseurin Kaouther Ben Hania den Film derart schnell und dazu noch unter Verwendung der originalen Notrufaufnahmen gedreht hat, hängt wohl weniger mit dem filmischen Ergebnis, als mit der eigenen Einstellung zum Gazakrieg zusammen.

Selbst das erfahrene Team des Roten Halbmondes steht bei diesem Anruf besonders unter Schock.

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Selbst das erfahrene Team des Roten Halbmondes steht bei diesem Anruf besonders unter Schock.

Seit den Bombenangriffen werden Notrufe aus Gaza nicht mehr vor Ort angenommen, sondern in das etwa 83 Kilometer entfernte Einsatzzentrum des Roten Halbmondes weitergeleitet. Die Mitarbeiter*innen befinden sich also selbst nicht unmittelbar im Kriegsgebiet, brauchen aber dennoch ständige Unterstützung von Seelsorger*innen, weil sie Anrufer*innen oft gar nicht oder nur sehr verzögert helfen können. Schuld ist das verschlungene System: Um eine Route für einen Rettungswagen zu bekommen, muss diese erst über mehrere Stationen hinweg von der Israelischen Armee vorgegeben werden …

… und wenn diese endlich vorliegt, beginnt alles noch einmal von vorne, um auch tatsächlich ein Grünes Licht für die Einsatzfahrt zu bekommen. Ansonsten laufen die Hilfskräfte Gefahr, beschossen oder zerbombt zu werden. Aber obwohl er schon viel erlebt hat, erhält Omar (Motaz Malhees) an diesem Tag einen besonderen Anruf: Ein Mädchen meldet sich aus einem Auto, in dem sie gemeinsam mit sechs bereits erschossenen Familienmitgliedern feststeckt. Von draußen hört man immer wieder Schüsse und Panzer. Während die sechsjährige Hind immer wieder bittet, ihr zu helfen und sie abzuholen, mahlen die Mühlen der Bürokratie diesmal offenbar besonders langsam. Dabei wäre ein Rettungswagen gerade mal acht Minuten von dem Mädchen entfernt…

An der Grenze zwischen Spielfilm und Wirklichkeit

„The Voice Of Hind Rajab“ spielt (fast) ausschließlich in der Einsatzzentrale des Roten Halbmondes. Während Omar und seine Kollegin Rana (Saja Kilani) abwechselnd mit Hind sprechen, um an Informationen zu kommen und sie zu beruhigen, ist es die Aufgabe ihres Vorgesetzten Mahdi (Amer Hlehel), über mehrere Zwischenschritte hinweg einen sicheren Rettungsweg zu koordinieren. Die Schauspieler*innen müssen sich dabei streng an ihre realen Vorbilder halten, denn die Stimme von Hind Rajab am anderen Ende der Leitung ist echt (die realen Aufnahmen gingen bereits kurz nach den Ereignissen in sozialen Netzwerken um die Welt). Auch bei ihrem oscarnominierten „Olfas Töchter“ hat Kaouther Ben Hania bereits an der Grenze zwischen Dokumentation und Spielfilm agiert, in „The Voice Of Hind Rajab“ verschwimmen die Formen ebenfalls wieder.

Dabei liegt zwar ab der ersten Sekunde ein hohes Maß an Dringlichkeit in der Luft, aber es passiert lange Zeit trotzdem wenig: Hind bittet mit erstaunlich ruhiger Stimme immer wieder um Hilfe – und wenn Rana selbst nicht kommen könne, um sie herauszuholen, dann solle ihr Mann sie eben fahren, erklärt die Sechsjährige mit einer entwaffnenden kindlichen Logik. Es ist vor allem ein Gefühl von unendlicher Machtlosigkeit, das sich zunehmend im Raum ausbreitet; irgendwann ist Omar sogar dermaßen verzweifelt, dass er seinen eigenen Chef angeht und auf eigene Faust irgendwelche Harakiri-Aktionen plant, nur um irgendetwas tun zu können. Dem Publikum im Kinosaal geht es in solchen Momenten nicht anders.

Rana (Saja Kilani) versucht Hind Rajab am Telefon den Mut zuzusprechen, den sie selbst immer mehr zu verlieren droht.

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Rana (Saja Kilani) versucht Hind Rajab am Telefon den Mut zuzusprechen, den sie selbst immer mehr zu verlieren droht.

Einen Tag vor „The Voice Of Hind Rajab“ feierte „A House Of Dynamite“ ebenfalls im Venedig-Wettbewerb seine Weltpremiere. Darin verdichtet Regisseurin Kathryn Bigelow die 20 Minuten vor dem potenziellen Einschlag einer Atomrakete auf US-amerikanischem Boden zu einem atemlosen Thriller, in dem ebenfalls hauptsächlich Einsatzzentralen sowie Telefon- bzw. Zoom-Calls zu sehen sind. Kaouther Ben Hania geht hingegen sehr viel schlichter zur Sache (bevor sie in den letzten Minuten mit einem genialen Einfall auch die realen Vorbilder der Protagonist*innen mit ins Bild rückt):

Zwar gibt es auch hier die in diesem Genre übliche Handkamera, die immer ein wenig wackelt und ganz nah an die Gesichter herangeht, um gleichermaßen Emotionen und Authentizität zu transportieren. Aber von der inszenatorischen Bravour einer Kathryn Bigelow ist Kaouther Ben Hania trotzdem weit entfernt. Zum Glück, möchte man fast sagen – denn dann wären die titelgebenden Hilferufe von Hind Rajab wohl endgültig überhaupt nicht mehr auszuhalten gewesen.

Fazit: Ein einziger Schlag in die Magengrube, der einem die ganze Hilflosigkeit der Menschheit in schmerzhaften 89 Minuten vor Augen führt.

Wir haben „The Voice Of Hind Rajab“ beim Venedig Filmfestival 2025 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs seine Weltpremiere gefeiert hat.