Im Parlament warf Hamburgs SPD-Innensenator Grote der AfD vor, Relativierung von Nationalsozialismus und Holocaust gehöre zu ihrer „Grunderzählung“. Das Landesverfassungsgericht weist die Klage der Rechtsaußen-Partei dagegen ab – eine bemerkenswerte Auslegung des Neutralitätsgebots für Regierungsmitglieder.

Wie viel Schärfe ist in der parlamentarischen Auseinandersetzung erlaubt – und wie weit dürfen Regierungsmitglieder dabei gehen, ohne ihre Pflicht zu Sachlichkeit und Neutralität zu verletzen? Das Hamburgische Verfassungsgericht hat nun in einem bemerkenswerten Urteil entschieden: sehr weit.

Das oberste Gericht der Hansestadt wies eine Organklage der Landes-AfD gegen Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD) am Freitag ab. Die Anträge der AfD, ihrer Bürgerschaftsfraktion und einzelner Abgeordneter seien nur teilweise zulässig und – soweit sie zulässig seien – unbegründet, sagte die Vorsitzende und Verfassungsgerichtspräsidentin Birgit Voßkühler. Die Entscheidung des Gerichts fiel einstimmig.

Innensenator Grote hatte in einer Bürgerschaftsdebatte im November 2023 erklärt, dass die AfD außerhalb eines „Grundkonsenses“ stehe und sich immer weiter radikalisiere. Dabei sagte er wörtlich: „Die Relativierung des Nationalsozialismus und des Holocaust (…) gehören zur Grunderzählung der AfD.“ Grote verwies dabei auf Beobachtungen von Verfassungsschutzbehörden und Einstufungen einzelner Landesverbände wie Thüringen und Sachsen als gesichert rechtsextremistisch.

Deshalb würden sich „die Vertreterinnen und Vertreter des Judentums in Deutschland zu Recht gegen jede durchsichtige und instrumentelle Solidarität der AfD“ verwahren, so Grote. Das Hamburger Landesparlament debattierte an diesem Tag über den Angriff der islamistischen Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023.

Die AfD wollte diese Charakterisierung nicht hinnehmen und argumentierte, der Senator habe mit den Äußerungen seine Pflicht zu Neutralität und Sachlichkeit verletzt. Die Vorwürfe seien zudem inhaltlich falsch, rechtswidrig und ein Verstoß gegen verfassungsmäßig garantierte Rechte der Partei wie Chancengleichheit. Der Landesverband und einzelne AfD-Abgeordnete wandten sich im April 2024 an das Hamburgische Verfassungsgericht und baten um Prüfung.

Das höchste Gericht der Hansestadt ist neben Bürgerschaft und Senat Verfassungsorgan. Es ist zuständig für Streitigkeiten zwischen Verfassungsorganen, Normenkontrollen und entscheidet über Wahlprüfungen sowie Fragen der Volksgesetzgebung. Die Präsidentin und die weiteren acht Mitglieder sind für sechs Jahre vom Hamburger Landesparlament gewählt. Das Vorschlagsrecht liegt bei den Fraktionen, teils auch beim Senat, der über das Präsidium entscheidet.

Die amtierende Vorsitzende Birgit Voßkühler etwa wurde 2020 von der rot-grünen Stadtregierung zur Verfassungsgerichtspräsidentin nominiert – und dann mit 96 von 107 gültigen Stimmen in der Bürgerschaft bestätigt.

Interessant und in dieser Klarheit neu ist, wie Voßkühler und ihre Richterkollegen das Neutralitätsgebot für Staatsvertreter auslegen. Diese Norm, die sich etwa aus Artikel 21, Absatz 1 Grundgesetz zum gleichen Recht aller Parteien ableitet, am politischen Wettbewerb teilzunehmen, verpflichtet Vertreter der Staatsmacht wie Bundeskanzler und Minister, allen zu dienen und sich (parteipolitisch) neutral zu verhalten. Vor allem bei amtlicher Öffentlichkeitsarbeit gilt es besonders strikt.

„Dieses Neutralitätsgebot gilt indes nicht im Rahmen einer Parlamentsdebatte“, führte die Vorsitzende Richterin Voßkühler in ihrer Begründung aus. Senatorinnen und Senatoren verwendeten dabei keine „aus dem Regierungsamt folgenden Mittel und Möglichkeiten“ und müssten wie alle anderen Abgeordneten rein auf die Überzeugungskraft ihres Worts setzen.

Das Urteil sei „eine bedeutsame und wichtige Entscheidung“ für die parlamentarische Debatte, kommentierte der Chef der Hamburger Senatskanzlei Jan Pörksen (SPD), der als Vertreter des Senats vor Gericht anwesend war.

„Ich halte es für sehr bedenklich, das Neutralitätsgebot so weit einzuschränken, dass es in einer Parlamentsdebatte überhaupt nicht mehr gelten solle“, sagte der Hamburger AfD-Bundestagsabgeordnete Alexander Wolf, der die Partei vor Gericht vertrat. „Ein Senator spricht doch auch im Parlament mit einer Amtsautorität, die ihn zur Zurückhaltung zwingen sollte.“

Für ihn sei aber besonders nicht nachvollziehbar, „dass das Gericht das Sachlichkeitsgebot zwar darlegt und dann gleichzeitig behauptet, Herr Grote hätte nicht dagegen verstoßen“. Der Satz, die Relativierung des Nationalsozialismus und des Holocaust gehörten zur „Grunderzählung“, sozusagen zur DNA der AfD, „ist eine dermaßen verleumderische und unwahre Aussage“, sagte Wolf, der früher selbst in der Hamburgischen Bürgerschaft saß.

Das Gericht argumentierte in seiner Begründung, mit diesem Satz des Innensenators werde erkennbar auf Äußerungen von Parteivertretern der AfD Bezug genommen, die die Erinnerungskultur an die Verbrechen des Nationalsozialismus kritisieren. „Aus der Perspektive eines objektiven Betrachters“ sei die Äußerung des SPD-Innensenators so zu verstehen, „dass er in der Relativierung des Nationalsozialismus gleichsam eine Relativierung auch des Holocaust erkennt“. Es läge fern, davon auszugehen, der Senator wolle damit einzelne Mitglieder der Hamburgischen Bürgerschaft der Volksverhetzung bezichtigen.

Die Äußerungen, die AfD stehe außerhalb eines „Grundkonsenses“ und radikalisiere sich immer weiter, seien im Zusammenhang der gesamten Rede und durch die Bezugnahme auf Tatsachen, wie etwa die Einstufung zweier Landesverbände als rechtsextremistisch, sachlich begründbar so die Vorsitzende Richterin in ihrer Begründung.

„Das heutige Urteil schafft Klarheit, dass in der parlamentarischen Auseinandersetzung, auch mit der AfD, die Dinge beim Namen genannt werden dürfen“, sagte Innensenator Grote. „Wer eine solche Härte in die parlamentarische Debatte bringt, wie die AfD, wird sich auch in Zukunft der klaren und deutlichen Gegenrede stellen müssen.“ Er sehe die Freiheit der demokratischen Debatte durch das Urteil gestärkt.

Wichtige Differenzierung – oder „deutliches Fehlurteil“?

Verfassungsrechtler und Politikwissenschaftler kommen in einer ersten Einschätzung zu unterschiedlichen Bewertungen des Hamburger Urteils. „Das Neutralitätsgebot ist ein offener Begriff und bedarf immer wieder der Kontextualisierung“, sagte der Bochumer Politikwissenschaftler Oliver Lembcke. Für Senatoren im Parlament gelte das Neutralitätsgebot nur noch in abgeschwächter Form; das Hamburger Landesgericht unterscheide in seinem Urteil wie auch das Bundesverfassungsgericht deutlich „zwischen Regieren und Debattieren“.

Dem widerspricht Staatsrechtler Volker Boehme-Neßler von der Universität Oldenburg. Er wirft dem Gericht eine „naive Sicht“ vor, die verkenne, wie Kommunikation funktioniert. „Selbstverständlich kommt es nicht nur darauf an, was gesagt wird. Mindestens so wichtig ist, wer etwas sagt.“ Grote spreche auch im Parlament immer mit der „Autorität eines Senators“.

Ähnlich äußert sich Hermann Heußner, Professor für Verfassungsrecht an der Hochschule Osnabrück. „Gerade, weil Senatoren in Hamburg keine Abgeordneten sein können, sprechen sie immer als Senatoren und nie als einfache Abgeordnete. Sie nehmen gezwungenermaßen immer Bezug auf ihre Amtsstellung.“ Ihn überzeuge dieses Urteil „ohne nähere Begründung“ deshalb nicht.

Völlig unverständlich sei für ihn, wie die Richter die Äußerungen von Andy Grote als „sachlich“ einordnen könnten, sagt Staatsrechtler Boehme-Neßler. Anders als Parteipolitiker dürfen Minister und Senatoren nicht ungehemmt polemisieren. Falsche Tatsachenbehauptungen oder bloße Diffamierungen sind ihnen verboten. Grotes Aussage zur „Holocaust-Relativierung“ als Partei-DNA aber sei eine bloße Diffamierung, die den politischen Konkurrenten stigmatisieren solle.

„In jeder Partei gibt es einzelne Extremisten. Aber ob eine Gesamtpartei extremistisch ist und den Holocaust relativiert, hängt von der offiziellen Programmatik und den Äußerungen der wichtigsten Politiker ab.“ SPD-Mann Grote könne seine Aussage nicht ausreichend belegen, findet der Staatsrechtler. „Selbst in den Gutachten des Verfassungsschutzes ist keine Rede davon, dass die AfD nationalsozialistisch sei und den Holocaust relativiere.“ Boehme-Neßlers Fazit: „Das Urteil der Hamburger Richter ist ein deutliches Fehlurteil, das nicht ansatzweise nachvollziehbar ist.“

Politikwissenschaftler Lembcke von der Universität Bochum dagegen sieht „Referenzen“ zu den Aussagen Grotes über die AfD. „Das mag man mal als hart oder polemisch empfinden, aber sicher nicht als Grenzüberschreitung oder als eine gezielte Verletzung verfassungsrechtlich verbriefter Rechte der AfD-Abgeordneten.“

Keine Neutralitätspflicht im Parlament – noch ist unklar, welche Signalwirkung das Hamburger Urteil für Staatsvertreter in anderen Bundesländern und im Bund und ihren Umgang mit der AfD haben wird. Die Partei prüft weitere rechtliche Schritte gegen den Richterspruch.

Korrespondent Philipp Woldin kümmert sich bei WELT vor allem um Themen der inneren Sicherheit und berichtet aus den Gerichtssälen der Republik. Im September erscheint im Verlag C.H. Beck sein Buch „Neue Deutsche Gewalt. Wie unsicher unser Land wirklich ist“, das er gemeinsam mit WELT-Investigativreporter Alexander Dinger geschrieben hat.