Zehn Tage vor der Kommunalwahl ringt die SPD in Gelsenkirchen-Buer mit Topfpflanzen, Marmeladengläsern und Malbüchern um ihre einstige Herzkammer. Die Sozialdemokraten bauen ihren Stand an einem belebten Punkt in der Buerer Fußgängerzone auf. Achim Post, Co-Landesvorsitzender der NRW-SPD, stellt sich gemeinsam mit OB-Kandidatin Andrea Henze in den Menschenstrom, eine Pflanze in einer Hand, ein Flyer mit angeheftetem rotem Kugelschreiber in der anderen. „Es ist ein bisschen wie beim Fußball“, sagt Post. „Man kämpft.“

Dabei war Gelsenkirchen vor Kommunalwahlen lange Zeit kein umkämpfter Ort, sondern ein Heimspiel für die Sozialdemokraten. Fast nirgendwo in Deutschland wurde mehr SPD gewählt als im Ruhrgebiet, in kaum einer Stadt im Pott war sie stärker als in Gelsenkirchen. Ab 1952 bekam die SPD bei jeder Kommunalwahl hier über 40 Prozent der Stimmen. 2009 und 2014 erreichte sie die absolute Mehrheit im Rat. Doch dann ging der rote Balken herunter. 

Kommunalwahl 2020: 35,1 Prozent (-15,1)

Europawahl 2024: 21,4 Prozent (-4,1)

Bundestagswahl 2025: 24,1 Prozent (-13)

Gleichzeitig kletterte der blaue Balken der AfD in Deutschlands ärmster Stadt immer höher.

Kommunalwahl 2020: 12,9 Prozent (+7,9)

Europawahl 2024: 21,7 Prozent (+5,2)

Bundestagswahl 2025: 24,7 Prozent (+11,9)

Bei der Bundestagswahl im Februar lag die AfD in Westdeutschland erstmals in zwei Wahlkreisen bei den Zweitstimmen vorne: Kaiserslautern und Gelsenkirchen. Die Herzkammer der Sozialdemokratie wird zum Sorgenfall der SPD.

„SOS und M“ am Infostand

Alle 60 Topfpflanzen sind am Infostand in Buer nach einer Stunde vergriffen, die Wahlkämpfer reißen eine Kiste mit Marmeladen auf, halten eine hoffnungsvolle Hand mit Glas und Flyer in die Fußgängermenge. Ab und zu weichen Passanten mit erhobenen Händen aus. Mit vielen anderen können die Sozialdemokraten Gespräche beginnen.

Wahlkampf in Gelsenkirchen, sagt ein SPDler, gehe nur, wenn man „SOS und M“ mitdenke: Sicherheit, Ordnung, Sauberkeit, Migration. Dabei scheinen jedoch viele Wähler nun auch auf andere Parteien zu setzen. „Ich wähle noch SPD“, höre er immer öfter, sagt der Wahlkämpfer. „Aber wenn ihr euren Hintern nicht hochkriegt, mache ich es wie meine Nachbarn und wähle die AfD.“

Achim Post, Co-Vorsitzender der SPD NRW (rechts) beim Wahlkampf in Gelsenkirchen-Buer, mit dem örtlichen Chef der AG 60plus Karl-Heinz Mohr (links).

Achim Post, Co-Vorsitzender der SPD NRW (rechts) beim Wahlkampf in Gelsenkirchen-Buer, mit dem örtlichen Chef der AG 60plus Karl-Heinz Mohr (links).

Waltraud Hülsmann, 91 Jahre alt, steht zwei Stunden am Stehtisch und sucht das Gespräch mit Passanten. „Waltraud war Punkt fünf vor zehn Uhr hier“, sagt ein SPDler. „Wie jedes Mal.“ Ein bis zwei Wahlkampfauftritte pro Woche absolviere sie momentan, erzählt Hülsmann, Infostände und Haustürwahlkampf, sie sei überall dabei. Nur die Treppen hochsteigen in die Wohnungen, das schaffe sie nicht mehr.

Sie komme aus Schlesien, sagt die Seniorin. Ihre zwölfjährige Schwester wurde auf der Flucht von russischen Soldaten erschossen, jahrelang zog sie mit ihrer Mutter von Lager zu Lager, heiratete schließlich, vor 52 Jahren zog sie mit ihrem Mann nach Gelsenkirchen. Dort trat sie in die SPD ein. „Ich mache mir schon Sorgen.“ Hülsmann überlegt. „Kommt wieder sowas? Ich habe genug erlebt. Ich möchte sowas nicht wieder erleben“, sagt sie, ohne dem „sowas“ einen Namen zu geben. „Wenn viele Jüngere das erlebt hätten, dann würden sie heute nicht so reden.“

Mit 91 Jahren ist Waltraud Hülsmann die älteste Wahlkämpferin am SPD-Stand.

Mit 91 Jahren ist Waltraud Hülsmann die älteste Wahlkämpferin am SPD-Stand.

Er blicke „einigermaßen optimistisch, aber auch mit Sorge“ auf die Kommunalwahl, sagt Achim Post. „Wir kämpfen dafür, dass wir weiterhin die Oberbürgermeisterin stellen. Dann sind wir zufrieden.“ Aber glücklich, das könne man nicht sein. Nicht, wenn 25 Prozent der Menschen hier AfD wählen. „Mein Eindruck ist: Die SPD-Ortsvereine sind dieses Mal noch engagierter als bei den letzten Wahlen“, sagt er. „Sie merken ja, wie die Stimmungslage in Berlin ist.“

Als das Glockenspiel wenige Häuser weiter 12 Uhr schlägt, reicht Sebastian Watermeier, Landtagsabgeordneter der SPD, sein letztes Marmeladenglas an eine Passantin. 60 Topfpflanzen, 60 Marmeladen, 300 Kugelschreiber sind sie an diesem Morgen losgeworden. Wie viele Bürger sie tatsächlich überzeugen konnten, werden sie am 14. September erfahren. Anders als bei der Bundestagswahl existieren für die Kommunalwahl keine belastbaren Umfragen.

Wenig Passanten am Stand der AfD

Vier Kilometer entfernt, in Gelsenkirchen-Resse, hat sich die AfD einen deutlich weniger belebten Ort für ihren Infostand ausgesucht. Sie hat ihren Pavillon vor dem Aldi an einer Kreuzung platziert. Nur vereinzelt kommen Passanten vorbei. Auf den Stehtischen liegen blaue Flyer, Feuerzeuge mit AfD-Logo, Hundeleckerlis und ein Zollstock mit der Aufschrift: „Nicht für linke Hände“. Dahinter stehen vier Männer der Gelsenkirchener AfD und, auch hier, der NRW-Landeschef der Partei, Martin Vincentz. 

Eine kleine Gruppe – junge, blonde Frau, ältere Frau im Rollstuhl, Kinder – überquert die Ampel in Richtung Aldi. Ein Mann hält der jungen Frau einen blauen Flyer hin.

„Gar nicht erst den Versuch starten“, faucht sie und läuft weiter.

„Ich hab‘ mit Nazis nix zu tun“, ruft die Frau im Rollstuhl.

„Das sind die Leute, die den ganzen Tag vor dem Fernseher sitzen. Nicht informiert“, murrt ein AfDler.

AfD-Stand im Gelsenkirchener Stadtteil Resse vor dem Aldi.

AfD-Stand im Gelsenkirchener Stadtteil Resse vor dem Aldi.

Gehen Passanten in den Dialog, könnte man eine Münze werfen. Manche reagieren mit Wut auf die AfD. Einige andere zeigen offen ihre Zustimmung. 

Ein Mann, grünes Shirt, langer Ziegenbart, mittleres Alter, läuft geradewegs auf den Stand zu. „Habt ihr auch Aufkleber?“, fragt er. Sie wechseln ein paar Worte, einen Flyer und einen Kugelschreiber, „denkt nächstes Mal an meine Aufkleber“, sagt der Mann und verabschiedet sich.

Ein breiter Mann im weißen T-Shirt geht aufgebracht am Stand vorbei. „Ihr seid die Falschen“, schimpft er, und: „Rassisten!“

An der Ampel hält eine Frau, kurbelt das Autofenster herunter, winkt einen AfD-Wahlkämpfer mit Flyer herüber. „Sensationell! Das gab es früher nie“, sagt ein AfDler entzückt.

„Der Zuspruch hat sich deutlich gesteigert“, sagt Vincentz. „Gerade im Straßenwahlkampf.“ An einen erneuten Sprung bei den Prozentzahlen der AfD scheint er trotzdem nicht zu glauben. Die AfD ist oft dort stark, wo die Wahlbeteiligung gering ist, meint er. Doch frühere Nichtwähler für eine Kommunalwahl zu mobilisieren, sei deutlich schwieriger. 

Ein Arbeiter, 63 Jahre alt, verschränkte Arme, zusammengezogene Augenbrauen, steckt den Zollstock ein, neben ihm steht ein Wahlkämpfer der AfD, 70 Jahre, ebenfalls Arbeiter. Beide Männer haben früher SPD gewählt, beide sahen ihren früheren Arbeitgeber aus dem Ruhrgebiet verschwinden.

Wahlkämpfer der AfD Gelsenkirchen im Gespräch mit einem Wähler

Wahlkämpfer der AfD Gelsenkirchen im Gespräch mit einem Wähler

Es beginnt ein Gespräch über das Abwenden. Sie reden über die Gesellschaft („die sind so uninformiert! Gucken nur ARD und ZDF“), über „die da oben“ („wir wissen, was abgeht, Punkt“), darüber, dass Deutschland keine richtige Demokratie mehr sei, über linke Gegendemonstranten („gesteuerte Leute, die werden alle bezahlt“). Sie schimpfen über Nazi-Beschimpfungen gegen die AfD („eine Verharmlosung des Dritten Reichs ist das!“), keine Minute darauf erzählt der Wahlkämpfer, wie er zu linken Gegendemonstranten rief: „Ihr seid die moderne SA!“ 

Als der Mann sich verabschiedet, muss er nicht an den Wahltermin erinnert werden. Es ist klar, wo er am 14. September sein Kreuz macht.

CDU: Freut sich der Dritte?

Wenn die Sozialdemokraten abstürzen und die AfD aufsteigt, gewinnt auch eine weitere Partei an Bedeutung: Seit sie ihre absolute Mehrheit verlor, koaliert die SPD im Stadtrat mit der CDU. Aus einem Durchmarsch der SPD ist längst ein Dreikampf geworden, den die CDU bei der Europawahl 2024 erstmals gewann. Erst einmal in ihrer Geschichte konnten die Christdemokraten mit Oliver Wittke in Gelsenkirchen einen Oberbürgermeister stellen. Fünf Jahre später wurde er wieder von der SPD abgelöst. 

In der Parteizentrale in der Altstadt stapeln sich Kisten mit Flyern. „Zeit für unsere Regeln“, steht dort, „Zeit für innere Sicherheit“, „Zeit für eine von uns“. Bei der Bundestagswahl hatte die AfD die „Zeit für Deutschland“-Kampagne ausgerufen und mit „Zeit für“-Postern plakatiert, einen Zusammenhang streitet die CDU Gelsenkirchen ab. 

Laura Rosen spricht in der Parteizentrale der CDU.

Laura Rosen ist OB-Kandidatin der CDU in Gelsenkirchen.

OB-Kandidatin Laura Rosen kommt zwischen zwei Terminen für ein kurzes Gespräch in die Zentrale. Die 31-jährige Finanzwirtin spricht konzentriert und schnell: Über Schrottimmobilien, in denen Menschen in unwürdigen Zuständen lebten, über unkontrollierte Zuwanderung aus Osteuropa, Müll auf den Straßen und über einen Unternehmer, dessen Bauantrag für einen Gastro-Container wochenlang in der Verwaltung versandete. „Wir haben zu oft eine Verhinderungsmentalität in der Stadtverwaltung“, sagt sie.

Gelsenkirchen brauche mehr finanzielle Mittel, gerade für den Kauf und Rückbau der Schrottimmobilien, betont sie. Das sei natürlich langwierig, aber spürbare Fortschritte in den kommenden fünf Jahren möglich. Rosen sagt, sie glaube nicht, dass die AfD bei dieser Wahl eine Ratswahl im Ruhrgebiet gewinnt, auch nicht in Gelsenkirchen. „Wir haben jetzt nochmal eine Chance, etwas zu verändern und den Bürgern diese Veränderung zu zeigen“, sagt sie. „Schaffen wir das in den fünf Jahren nicht, wird das schwierig hier vor Ort.“